Forever may not be long enough | Eine kurze Geschichte der Filmlänge

Für Kinobetreiber sind überlange Filme mittlerweile ein einträgliches Geschäft, da sie selbst dann einen Aufschlag verlangen können, wenn die zehn Minuten über Normallänge lediglich für den Abspann draufgehen. Doch was ist das für ein Trend, der Filme immer länger werden lässt? Und bringt das dem Zuschauer wirklich mehr Drama, mehr Abenteuer, kurz: mehr fürs Geld?

Die Geschichte des Kinos begann bescheiden – mit Filmen, die nur wenige Minuten dauerten und heranrollende Züge oder den Straßenverkehr zeigten. Kino war Spektakel, und mehr noch als die gezeigten Szenen interessierte die Menschen damals die Technik. Jede Neuerung wurde mit Begeisterung empfangen, sei es der Wechsel von individuellen Guckkästen zur großen Leinwand oder die Erfindung des Tonfilms. Aber dieses Kino war kein Kino der Geschichten, sondern eines der reinen Schaulust. Auch deshalb waren Verfremdung und Tricktechnik schon früh ein Stilmittel. Drama und komplizierte Plots blieben vorerst aufs Theater beschränkt, denn das Kino wollte nicht einfach nur ein neues Medium für Altbekanntes sein, sondern eine völlig neue Art der Unterhaltung erfinden. Und gerade weil die gezeigten Filme so kurz waren, wurden sie in ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Bühnenveranstaltungen eingebettet.

Es dauerte dennoch nicht lang, bis sich die Filme weiterzuentwickeln begannen. Aus einer Szene wurden zwei oder drei, schließlich wurden einfache Geschichten mit wechselnden Einstellungen erzählt. Und kaum war das Medium den Kinderschuhen entwachsen, drehten ehrgeizige Regisseure Monumentalfilme von zwei bis drei Stunden Länge. Das Kino entfernte sich mehr und mehr von seinen anfänglichen Ambitionen. Sicher auch, weil das Publikum es irgendwann langweilig fand, im Kino Dinge zu sehen, die es tagtäglich auf den eigenen Straßen beobachten konnte. So tat man etwas, was das Medium Film für immer verändern sollte: Man imitierte das Theater. Mehr noch, Theaterstücke, aber auch Bücher wurden nun verfilmt, mit teilweise komplizierten narrativen Strukturen. Im Falle einer großen Geschichte wie dem Nibelungenlied, das Fritz Lang 1924 verfilmte, führt das zu einem fast fünfstündigen Monstrum.

Die Entstehung der Traumschmiede Hollywood prägt das Kino bis heute. Da schon nach kurzer Zeit die meisten Filme aus den USA kamen, übernahmen die dortigen Filmstudios eine gewisse Vorreiterfunktion. Bald hielten sich alle Filmemacher an das Erzählschema Hollywoods, um im Fahrwasser dieser Erfolgsgeschichte mitfahren zu können. Schaut man sich die Filme an, die in der Zeit von 1950 bis in die 1990er hinein in der westlichen Welt entstanden sind, so lässt sich nicht nur eine gewisse stilistische Ähnlichkeit feststellen. Diese Filme haben in der Regel auch eine Länge, die sich irgendwo zwischen 90 und 120 Minuten bewegt. Überlänge war reserviert für epische Historiengemälde und teure Space Operas. Heute ist das anders. Heute wirkt alles unter 120 Minuten irgendwie verdächtig.

Den wenigsten Kinozuschauern ist klar, dass die magische Marke von 90 Minuten nicht zufällig gewählt wurde, sondern auf den Traumphasen des Menschen basiert. Die Zeitspanne, in der wir vom leichten Schlaf in Tiefschlaf gleiten, in welchem wir träumen, beträgt ziemlich genau 90 Minuten. Danach gehen wir wieder in leichten Schlaf über, der erneut zum Tiefschlaf führt, und immer so weiter. Es ist einfache Psychologie, wenn Filme diesen Rhythmus imitieren – nach 90 Minuten erwachen wir quasi aus dem Filmtraum. Man kann das an sich selbst beobachten, wenn man einen Film schaut, der länger ist: Nach etwa anderthalb Stunden lässt die Aufmerksamkeit unweigerlich nach. (Im Heimkino greifen wir dann häufig zum Handy, um mal zu schauen, was gerade bei Instagram los ist.) Bevor nun aber Einwände kommen, dass es doch etliche Filme gibt, die zwei Stunden lang hochspannend fesselnd sind: Natürlich, das ist eine Verallgemeinerung. Aber der durchschnittlich spannende Film schafft es in der Regel nicht, die 90-Minuten-Marke unbemerkt vorbeischleichen zu lassen.

An dieser Stelle ist ein Blick auf die Entstehung eines Films nützlich. Am Anfang steht der Drehbuchautor, der im besten Falle schon dafür sorgt, dass die Geschichte in einem angemessenen Tempo erzählt wird. Die Aufgabe des Regisseurs besteht anschließend darin, die geforderten Szenen in unterschiedlichen Blickwinkeln zu filmen, um später im Schnitt genug passendes Material zu haben. Auch das hat damit zu tun, dass Hollywood unsere Art, wie wir Filme konsumieren, so stark beeinflusst hat. Es gibt eine Reihe von möglichen Einstellungen wie Panorama-, Halbnah- oder Nahaufnahme, die nur in einer ganz bestimmten Reihenfolge angeordnet werden dürfen. Geschieht das nicht, werden unsere Sehgewohnheiten durchbrochen, was wiederum von der Handlung ablenkt.

Der heikle Punkt, an dem sich entscheidet, ob ein Film spannend oder gähnend langweilig wird, liegt im Schneideraum. Bei allen Konventionen, der Cutter muss einfach ein Gefühl dafür haben, wie ein Film rhythmisch funktioniert. Eine Autojagd verlangt nach einem schnellen Wechsel der Perspektiven, um dynamisch zu wirken, eine Dialogszene hingegen darf ruhig etwas statisch sein und muss nur gelegentlich zwischen den beiden Sprechenden wechseln. Viele romantische Filme und Komödien arbeiten inzwischen auch mit der Collage, also einem Zusammenschnitt kurzer Szenen, die mit Musik unterlegt werden, um ein Emotionen zu erzeugen oder das Vergehen von Zeit anzudeuten. Wirklich gelungen ist der Schnitt eines Filmes dann, wenn man ihn als Zuschauer nicht wahrnimmt, sondern die Geschichte so erlebt, als würde sie gerade stattfinden.

Empfinde ich einen Film als zu lang, dann liegt das selten an der Geschichte, sondern meist daran, wie sie mir erzählt wird. Das kann zum Beispiel an Szenen liegen, die keinen Bezug zur Handlung haben und nur dazu dienen, möglichst viel brutale Action zu zeigen. Auch Liebesszenen sind oft uninspiriert und ziehen die Handlung unnötig in die Länge. Im Falle von Literaturverfilmungen passiert es zudem häufig, dass sich Drehbuchautoren, Regisseure und Cutter von zu vielen Szenen der Buchvorlage nicht trennen wollen. Alfonso Cuaróns „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ weist zwar nur noch einen Bruchteil der Buchhandlung auf, dafür aber wirkt seine Interpretation atmosphärischer und dichter als jeder andere Teil der Filmreihe. Ein Gegenbeispiel ist die „Herr der Ringe“-Reihe, bei der insbesondere der dritte Teil eine echte Zumutung ist, weil er gefühlte zehn Mal fast zu Ende ist. Auch wenn viele Fans das womöglich als Beleidigung auffassen, ist das in meinen Augen glattes Versagen des Cutters. Für mich ist es sogar immer ein ausgesprochen gutes Zeichen, wenn als Bonus in der Heimkino-Veröffentlichung besonders viele geschnittene Szenen enthalten sind. Manchmal ist es gewiss bedauernswert, dass es die eine oder andere nicht in den fertigen Film geschafft hat, doch wenn man ehrlich ist, wird man meistens zugeben müssen, dass der Film ohne sie besser funktioniert.

Der Trend zum längeren Film rührt vielleicht auch ein bisschen daher, dass man dem Zuschauer nichts mehr zutraut. Man meint, ihm alles zeigen zu müssen, damit er der Handlung folgen kann. Dabei sind es oft gerade die Leerstellen im Film, die zum Nachdenken anregen und die Geschichte erst interessant machen. Und wie bei so vielen Dingen, ist auch die Wohlfühllänge eines Films natürlich eine sehr individuelle Angelegenheit. Ich persönlich mag Filme, die eine moderate Länge haben, sich nicht in unnötigen Details aufhalten und stattdessen einen ordentlichen Erzählfluss aufweisen. Andere schauen sich gerne zwei Stunden lang Actionsequenzen an, meine Gedanken schweifen in solchen Momenten ab. Fünf Enden finde ich ermüdend, ein offenes Ende hingegen anregend. Das bedeutet nicht, dass es keine überlangen Filme gibt, die ich trotzdem oder gerade deswegen mag. Es bedeutet nur, dass nicht jeder Film auf Teufel komm raus die 120-Minuten-Marke durchbrechen muss. Denn oft genug sind die Kinobetreiber leider die Einzigen, die davon profitieren.