Bücherstapel | Naomi Novik „Das dunkle Herz des Waldes“

„Ihr Dorfmädchen seid am Anfang alle ermüdend, manche von euch mehr, andere weniger. Du aber erweist dich wirklich als ein Paradebeispiel von Unfähigkeit.“

Der ewig hungrige Wald

Alle zehn Jahre holt sich der Drache, ein mächtiger, aber zurückgezogen lebender Zauberer, ein Mädchen aus einem der umliegenden Dörfer. Ein geringer Preis dafür, dass er sie vor dem „Übel“ aus dem Dunklen Wald beschützt. Dieses Jahr, so glauben alle, wird es Kasia treffen, denn sie ist mit Abstand das schönste Mädchen. Doch der Drache entscheidet sich für den ungeschickten Wildfang Agnieszka und nimmt sie mit in seinen Turm. Wie sich herausstellt, ist sie eine Hexe, doch ihre Ausbildung gestaltet sich schwierig, denn ihre Magie ist viel wilder und naturverbundener als die des Drachen. Als Kasia in den Wald entführt und in einen Herzbaum eingeschlossen wird, gelingt es Agnieszka und dem Drachen, sie zu befreien. Ein Erfolg, der Wellen bis ins nächste Königreich schlägt, wo man vor zwanzig Jahren die Königin an den Dunklen Wald verloren hat.

Eine Geschichte über Magie, Liebe und Wurzeln

Ich entdeckte Naomi Noviks „Das dunkle Herz des Waldes“ Anfang des Jahres auf einer Liste mit Büchern über die Magie von Wäldern. Es war das einzige, das bereits auf Deutsch erschienen war, und das war tatsächlich das einzige Kriterium, um es auf meine Leseliste zu packen. Das Bemerkenswerte daran ist, dass sich das Buch völlig überraschend als eines der besten herausstellte, das ich in den letzten Jahren gelesen habe. Das liegt nicht nur an der spannenden Geschichte, sondern vor allem daran, wie die Autorin die Faszination des Waldes einfängt.

Der Dunkle Wald ist hier ebenso sehr Protagonist wie Agnieszka oder Sarkan, der Drache. Er hat eine eigene Persönlichkeit, die zu Beginn einfach nur böse und unbezähmbar scheint, nach und nach aber weitere Facetten enthüllt. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Magie. Obwohl der Drache die Magie in Agnieszka spürt, hält er sie zunächst für wenig talentiert, denn sie scheitert bereits an den einfachsten Sprüchen. Erst nach und nach – und nicht zuletzt durch Agnieszkas Hartnäckigkeit – muss er anerkennen, dass sie einfach nur einen anderen Zugang zur Magie hat. Während er feste Formeln und Sprüche nutzt, vertraut sie auf ihre Gefühle und lässt die Worte als Geschichten und Lieder zu sich kommen. Gemeinsam entwickelt sich daraus eine mächtige Verbindung, und es macht viel Freude, das mitzuerleben.

Tatsächlich der einzige Grund, warum ich nicht die volle Punktzahl geben kann, ist das Intermezzo am Königlichen Hof. Nachdem sich die Geschichte anfänglich sehr stringent vorwärts bewegt und die Spannung hochgehalten wird, verlangsamt sich das Tempo nach der Befreiung der Königin spürbar. Plötzlich reiht sich ohne erkennbaren Nutzen eine unwichtige Szene an die nächste, und irgendwann beginnt man, Sarkan fast noch mehr zu vermissen, als Agnieszka das tut. Erst bei der Flucht und der anschließenden Belagerung des Turms findet die Story zu ihrer Stärke zurück.

Dafür ist „Das dunkle Herz des Waldes“ eines der ganz seltenen Beispiele für eine rundum stimmige Auflösung. Sie besteht am Ende eben nicht darin, den Dunklen Wald zu vernichten, was eine wunderbar versöhnliche Idee ist, aber auch zur persönlichen Entwicklung Agnieszkas passt. Sie findet einen Weg, wie die Menschen mit ihm zusammenleben und sogar von ihm profitieren können. Die Wurzeln, die Sarkan über all die Jahre bei den Mädchen zu kappen versuchte, bleiben erhalten und zeigen, wie wichtig Heimat ist – ein mittlerweile selten gewordener Ansatz.

Aber auch die unvermeidliche Liebesgeschichte von Agnieszka und Sarkan endet auf eine überraschend zartfühlende Weise, die ich nicht erwartet hatte. War ich anfangs etwas genervt vom altbekannten Tropus der Schülerin, die sich in ihren Lehrer verliebt (vielleicht auch, weil ich ihn selbst schon geschrieben habe), entwickelt sich die Verbindung ihrer unterschiedlichen Magie schließlich doch sehr organisch. Die Szene, in der sie zum ersten Mal übereinander herfallen, bevor sie erschrocken einen Rückzieher machen, gehört auch deshalb zu den stärksten des Romans. Als sie sehr viel später tatsächlich miteinander schlafen (ein Kapitel, das in seiner anatomischen Detailliertheit dann doch etwas heraussticht), hat das leider nicht mehr dieselbe Wirkung, weil ihre sich vermischende Magie zu dem Zeitpunkt keine Rolle mehr spielt. Dennoch, ihre Unterschiedlichkeit treibt sie zwar auseinander, schließlich aber auch wieder zueinander, und alles darüber hinaus bleibt unserer Fantasie überlassen.

„Das dunkle Herz des Waldes“ ist klar dem Bereich Young Adult zuzuordnen, weiß aber auch älteren Lesern noch einiges zu geben. Wer Wälder liebt, wird den Roman nicht mehr weglegen wollen und Bäume anschließend vielleicht sogar mit anderen Augen sehen. Das mittlerweile aber fast wichtigste Argument im phantastischen Genre ist, dass es sich hierbei um ein alleinstehendes, in sich abgeschlossenes Werk handelt. Man verpflichtet sich also nicht schon wieder einer potenziell endlosen Reihe. Klare Leseempfehlung!

4 ½ von 5 im Herzbaum eingeschlossenen Bananen.