Literatur am Samstag | Nocturnal

Ich habe eine ausgeprägte Schwäche für Vampirromane und möchte unbedingt einmal selbst einen schreiben. Jedoch, gerade weil mir das Genre so viel bedeutet, müsste es schon eine absolut einzigartige Story sein, die niemals zuvor erzählt worden ist. Die vorliegende Kurzgeschichte war die Vorarbeit für das bisher vielversprechendste Projekt, ein Roman über einen Menschen, der unter Vampiren lebt und sich in einen Vampirjäger verliebt. Tag und Nacht. Irgendwie finde ich die Idee immer noch reizvoll, also wer weiß, vielleicht wird irgendwann noch was daraus. Bis dahin happy Halloween mit diesem kleinen Teaser!

Die Nacht war schwarz und bitterkalt. Isobel konnte den nahenden Winter beinahe schmecken, aber in diesem Moment spürte sie nur die Aufregung darüber, dass Mael sie mit auf die Jagd genommen hatte. Er hatte ihr keinen Grund genannt, aber das war auch nicht nötig, sie wusste, dass es Zeit wurde.

„Erzähl mir noch mal, wie du mich gerettet hast“, bat sie und sah zu dem stillen Mann auf, der neben ihr lief. Er trug wie sie einen langen schwarzen Samtumhang über der altmodischen Kleidung. Mael liebte Samt, er war eben ein Vampir der alten Tage. Seine Augen fingen jeden noch so winzigen Lichtstrahl auf und leuchteten unwirklich, als er sich nach einem Opfer umsah. Isobel wusste, dass er hungrig sein musste, er war nur wegen ihr sechs Nächte lang nicht ausgegangen.

„Es war auch eine kalte Nacht“, begann er leise. „Sie hatten deine Eltern schon getötet, als ich kam.“ Es waren Vampire aus seiner Gruppe gewesen, und als er eingriff, hatte er dem Kind nur einen schnellen Tod bereiten wollen. Doch Isobels Augen, die heute noch so tiefblau wie eine Sommernacht waren, hatten ihn an etwas erinnert, was er mit dem Namen Ishmael abgelegt zu haben glaubte. „Du hattest keine Angst.“

Isobel lächelte. „Nein.“ Sie erinnerte sich nicht mehr an jene Nacht, aber an viele, die darauf folgten, und niemals hatte sie sich vor Mael gefürchtet. Er war ihre Familie.

Stumm deutete er auf einen jungen Mann, der sich ängstlich an den Häuserwänden auf der anderen Straßenseite entlang drückte. Alle paar Schritte warf er einen Blick über die Schulter und zuckte zusammen, weil niemand da war. Er kannte nicht das Gefühl von Sicherheit, das Mael und seinesgleichen in der Dunkelheit verspürten. Isobel liebte die nächtliche Stille. Das unheimliche Geraschel, das gelegentlich zu hören war und niemals zur vollen Zufriedenheit identifiziert werden konnte. Und was gab es Schöneres als den Nachthimmel mit seinen Tausenden von Sternen, die sich in ihren dunklen Augen spiegelten und Mael zum Lachen brachten?

Mael nickte Isobel nur zu und huschte dann in einer fließenden Bewegung, die weder als Laufen noch als Fliegen zu erkennen war, zur anderen Straßenseite, um hinter dem Auserwählten Stellung zu beziehen. Als der Mann ein weiteres Mal ängstlich nach hinten sah, schien ihn beinahe ein wohliger Schauer zu durchfahren, weil er endlich etwas erblickte. Er gab keinen Ton von sich, als Mael nach seinem Hals griff und sich hinab beugte. Ohne Widerwillen wandte der Mann seinen Kopf zur Seite und ließ den Vampir seinen Hals sehen. Der blickte ihn einen Augenblick lang fasziniert an und schlug dann seine spitzen Fangzähne in die nackte Haut.

Isobel war wie hypnotisiert von dem Anblick, ihr war heiß und kalt zugleich und unwillkürlich fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Sie kannte den Geschmack ihres eigenes Blutes, den seltsam stumpfen Geschmack von Metall, aber wie mochte das Blut eines Fremden schmecken? Mael war solchen Fragen immer ausgewichen, aber es musste einen Unterschied geben, nach vierhundert Jahren würde sonst jeder Geschmack langweilig.

Unbemerkt war Mael zu ihr zurückgekehrt und legte eine seiner starken Hände auf ihre Schulter. Isobel blickte zu ihm auf und sah, dass seine Haut durch das frische Blut eine rosige Farbe angenommen hatte. Er wirkte beinahe lebendig, dachte sie still, nur seine hellen Augen blickten sie wie eh und je aus einer anderen Welt an. In Augenblicken wie diesen wusste sie nicht mehr, was sie fühlte. Sie liebte Mael, seit sie denken konnte, aber da war etwas Neues. Plötzlich war ihr nur noch heiß, ihre Wangen glühten und in ihren Augen brannten Tränen.

Mael entging Isobels Blick nicht. Sie spielte damit, seit sie sich ihrer Reize bewusst geworden war, das war einer der Gründe, weshalb es Zeit wurde, dass er sie zu einer der ihren machte. Er hatte sie an einem intimen Moment teilhaben lassen, und das hatte er nie zuvor jemandem erlaubt. Seine Hand auf ihrer Schulter kam ihm unendlich schwer vor, ihre Augen sahen beinahe schwarz aus. Es wurde Zeit. Zeit. Mit einem Mal war er sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich bereit war, er sah nur ihre dünne Gestalt, klein und zierlich, und ihren flehenden Blick.

„Mael“, flüsterte Isobel. Die Worte, so viele Worte, wurden bedeutungslos. Sie konnte sehen, dass er sich nicht überreden lassen würde. „Du wirst es nicht tun, oder?“

„Nein.“ Die Antwort kam so schnell, dass kein Zweifel an ihr bestehen konnte. Er konnte es nicht tun, Isobel war kein namenloses Opfer, sie war eine Freundin, eine Tochter.

„Geh“, sagte sie nur und klammerte sich an seinen Blick, an die Jahrhunderte, die sie in ihnen erblickte, aber es war bereits anders. Da war kein Universum voller Wunder mehr, das er ihr zeigen wollte, sondern eine unüberwindbare Kluft, und so sah sie schließlich weg und log: „Ich muss eine Weile allein sein.“

Isobel spürte den leichten Luftzug, als Mael in die Nacht verschwand, aber sie blickte nicht auf. Sie blieb lange dort stehen, am Straßenrand unter den Sternen, dann folgte sie ihm zu dem Ort, der ihr einziges Zuhause gewesen war. Niemand kam mehr auf diesen Friedhof, er war so alt, dass selbst die Angehörigen der hier Begrabenen lange gegangen waren. Zwischen den Grabsteinen und Engelsstatuen wucherten die Pflanzen, und versteckt zwischen einigen Bäumen stand die alte Kapelle. Sie hatte nichts Hoheitsvolles oder Göttliches mehr an sich, die Fenster waren eingeschlagen und an der Fassade schlängelte sich Efeu empor. Alles wirkte plötzlich seltsam fremd.

Sie setzte sich auf die Mauer vor der Treppe und ließ sich eine Weile den kalten Wind ins Gesicht wehen, bis sie kaum noch etwas spürte. Keine Unsterblichkeit für sie. Der Gedanke tat für einen kurzen Augenblick weh, doch dann breitete sich ein Gefühl in ihr aus, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Sie war erleichtert.

Und dann brach die Dämmerung an, verwandelte das Schwarz der Nacht in einen blaugrauen Schleier, hinter dem sich die Farben des kommenden Tages versteckten. Isobel lächelte und öffnete den Verschluss ihres Samtumhangs, der nun nichts weiter als eine schale Erinnerung war. Sie hatte sich für die Nacht entschieden, ohne je den Tag kennengelernt zu haben, und als sie nun in den Himmel blickte, der voller Geheimnisse zu sein schien, beneidete sie Mael und die anderen nicht mehr. Mit einem verheißungsvollen Schimmern stieg sanftes Rosa den Horizont hinauf und färbte die Wolken glutrot, bevor die Sonne mit blendender Helligkeit folgte. Isobel schloss erschrocken die Augen, und als sie sie langsam wieder öffnete, war die Welt eine andere. Den schwarzen Umhang auf der Mauer zurücklassend, machte sie sich auf, sie kennenzulernen.