ZSSD/Interim | Review: The Sandman, oder der Versuch, das Unverfilmbare zu verfilmen

“I think — at the end of the day — this will have been a very profitable evening’s work.“

 

Worum geht es?

Zuerst einmal muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass The Sandman eine zusammenhängende Geschichte erzählt. Das hat es auch in den Comics schon nicht. Es sind eher kurze Episoden, mal ein paar wenige Seiten lang, mal einen Band umfassend, und nicht immer spielt der titelgebende Held auch die Hauptrolle.
Aber worum geht es – generell? Morpheus, Dream, der „Sandman“, ist eine anthropomorphe Personifikation des Traums. Er regiert das Traumreich, in das wir alle einkehren, wenn wir träumen. Er erschafft unsere Träume und Alpträume, und darüber hinaus formt er über unser Unterbewusstsein einen Gutteil unseres Charakters.
Neil Gaiman, zusammen mit diversen Zeichnern wie Mike Dringenberg und Sam Kieth, entwarf diese Personifikation als einen immer schwarz gekleideten, grüblerischen und nicht zu knapp arroganten Mann, mit wirren, dunklen Haaren, weißer Haut und durchgängig schwarzen Augen wie Nachthimmel, in denen je ein einzelner Stern leuchtet. Seine Machtinsignien sind der Helm, ein martialisches Gebilde, an dem eine Wirbelsäule zu hängen scheint, einen großen Rubinanhänger und einen Beutel voller Traumsand.
Wir sehen ihn das erste Mal, als er, angezogen durch ein schwarzmagisches Ritual, eines schönen Tages in den Bannkreis eines Magiers fällt, der ihn in eine Glaskugel einschließt und ihm Kleidung, Helm, Rubin und Beutel stiehlt. Seiner Macht beraubt verbringt Morpheus viele Jahrzehnte in seinem Gefängnis, bis er eine Möglichkeit zur Flucht nutzt. Nachdem er den Sohn des Magiers, der Morpheus nach dessen Tod aus Angst vor Rache ebenfalls nicht freilassen wollte, ausgiebig bestraft hat, macht er sich auf die Suche nach seinen Insignien. Nur mit ihnen kann er sein in der Zwischenzeit verfallenes Reich wieder aufbauen.
Hernach sieht man Morpheus in vielen anderen Geschichten der Sandman-Welt, mal mehr, mal weniger als aktiver Part darin.

Wie ist es?

Präludien & Notturni heißt der erste Band des Sandman-Universums, und diese Geschichte war meine liebste, seit ich Mitte der Neunziger über einen meiner damaligen Lehrer mit den Comics in Kontakt kam. Es ist eine typische Heldenreise: Der Hauptcharakter verliert erst alles und muss sich danach erst wieder mühsam zurück zu einstiger Größe kämpfen. Seine Reise führt ihn zu verschiedensten Orten, einschließlich der Hölle, ist also ebenso vielfältig, kreativ und schön anzusehen, wie zu lesen. Doch kann man das ausreichend gut verfilmen?

Um es kurz zu machen: Joah, schon. Ich mochte vieles, ja, sogar den überwiegenden Teil. Und es hat ja allein schon etwas Berauschendes, die Welt, die man seit gut 25 Jahren nur als Comic kennt, endlich einmal in bewegten Bildern zu sehen.
Der erste „Dämpfer“ kam allerdings kurz nach Bekanntwerden der ersten Szenen: Dreams charakteristische schwarze Augen sind normalen, menschlichen gewichen. Nur am Ende der ersten Folge sieht man sie kurz in ihrer Originaloptik, wenn sich Morpheus aus einer Katze verwandelt, und ich finde den Anblick einfach grandios. Ich kann nicht umhin zu bedauern, dass wir ihn nicht ständig geboten bekommen – oder zumindest sehr viel öfter. (Dass es Tom Sturridge zu viel Ausdruckskraft genommen hätte, kann ich irgendwie nicht glauben. Man denke nur an den Mandalorianer, der schafft das ganz ohne sichtbare Gesichtszüge sehr gut.)
Morpheus ist in den Comics eindeutig nicht-menschlich, was auch durch die visuelle Umsetzung seiner Stimme, ausgefranste Sprechblasen mit weißer Schrift auf schwarzem Grund, in jedem Panel deutlich gezeigt wird. Auch wenn andere Figuren ihn teilweise als Mensch wahrnehmen, sehen ihn die Leser immer als Personifikation des Traumreiches. Das ist eben diese Sache, die ich am Comic-Morpheus immer besonders geliebt habe, und die ich beim Netflix-Morpheus leider vermisse. Zu oft sieht letzterer aus wie der Frontsänger einer Gothic-Band. Das Übermenschlich-Machtvolle, das ihn – bei all seiner allzu menschlichen Arroganz – eben doch auch ausmacht, geht daneben für meine Begriffe oft sehr unter.
Es gibt auch andere Änderungen von der Vorlage, die sich hauptsächlich auf Geschlecht und Hautfarbe der Figuren beziehen, und mit einigen komme ich sehr gut, mit anderen weniger zurecht. Am besten gefällt mir diesbezüglich Asim Chaundhry als Abel. Er sieht aus wie aus dem Comic gezaubert! Auch Gwendoline Christie als Luzifer und Mason Alexander Park als Desire sind grandios. Und auch Vivienne Acheampong als Lucienne (im Original ist Dreams Bibliothekar ein weißer hagerer Mann namens Lucien) klappt für mich einwandfrei.
Insgesamt gefiel die Verfilmung also sehr viel mehr, als ich befürchtet hatte. Ja, Morpheus hat mir zu oft ein allzu menschliches Duckface, ja, mein persönlicher Constantine wird immer Matt Ryan bleiben, ja, die zweite Hälfte der Serie war mit der Umsetzung des Puppenhauses sehr oft ziemlich langweilig, aber alles in allem ist die Serie viel mehr als nur okay. Auch die Zusatzfolge mit den träumenden Katzen und dem ersten kleinen Einblick in Morpheus‘ Fähigkeiten als Vater (ähem, ähem) gefiel mir gut.
Ein wenig könnte man vielleicht noch bemängeln, dass die Serie manchmal recht „weichgespült“ wirkt, wo sie in der Vorlage sehr grafische, brutale Inhalte hat – gut zu sehen bei der 24h Diner-Folge oder auch bei Calliope. Der Comic ist da oft ungeschönt und recht hart. Bleibt die Frage, ob das für die Serie bereichernd gewesen wäre, oder eben nicht …
Aber, hey, wir bekommen Charles Dance als Schwarzmagier Roderick Burgess, das entschädigt schlichtweg für alles! Und als wäre das nicht genug, gibt es ein kleines Bonbon für Comic-Fans bei jedem Abspann. Vom Designer der traumhaften, extrem kreativen Comic-Cover, Dave McKean, stammen die kaleidoskopischen Hintergründe.

Was kommt danach?

Nun, trotz der schieren Unmöglichkeit, einen Vierteljahrhundert-Fan in allen Details zufrieden zu stellen, hoffe ich doch, noch viel mehr der Netflix-Serie zu sehen. Sie macht Spaß, ist unterhaltsam, und sei es nur darin, die gezeichnete Vorlage aus der Erinnerung zu kramen und zu vergleichen. Sie ist definitiv eine der besseren Comic-Umsetzungen – und ich als Videospielfan kann über verpatzte Adaptionen echt einen ganzen Liederkanon singen … wie der Zufall will, habe ich das sogar in näherer Zukunft hier im Blog vor. 😊
Doch ich hoffe ehrlich und aufrichtig, dass Netflix die Serie nicht wie so oft nach einer Staffel absägt. Die fast durchweg guten Kritiken lassen hoffen.