Die Fernsehfizierung des Streamings

Vor der Erfindung des Streamings hatten wir alle diesen einen Abend in der Woche, an dem wir nicht gestört werden wollten. Der Tag, an dem die Lieblingsserie im Fernsehen lief, war schließlich heilig. Bei Serienfans waren es gerne auch mal drei bis vier Abende die Woche. Kurzum, unsere Abendgestaltung wurde vom Fernsehprogramm diktiert, denn Videorekorder waren zwar theoretisch existent, aber praktisch wollten wir ja sofort wissen, wie es weitergeht.

Serienplanung für Fortgeschrittene

Ich erinnere mich noch gut an die elaborierten Listen, die ich damals führte. Auf einem kleinen Zettel, der an der Innenseite meines Schreibtischschranks klebte, notierte ich für jeden Wochentag die jeweilige Serie. Kam eine neue hinzu, schrieb ich die Liste neu. Es gehörte jahrelang zu meinem wöchentlichen Ritual, am Sonntag sämtliche Serienfolgen der kommenden Woche an meinem Videorekorder bzw. später am Festplattenrekorder zu programmieren.

Mir ging es im Grunde nie darum, alles zeitnah zu sehen, viel wichtiger war, keine Folge zu verpassen. Und machen wir uns nichts vor, dank der unsensiblen Programmplanung der Privatsender passierte das trotzdem ständig. Serienfan zu sein, bedeutete in diesen Tagen, von der Zeitplanung anderer abhängig zu sein. Du bekamst eine neue Folge pro Woche und das war’s. Und sobald man mehr als drei Serien verfolgte, konnte es ganz schön verwirrend werden.

Die Freiheit des Binge Watching

Als das Streaming in den Alltag einzog, bedeutete das für mich in allererster Linie Freiheit. Keine Listen mehr, kein lästiges Programmieren mehr, kein Warten mehr auf die nächste Folge. Die Zeitplanung lag endlich bei mir selbst. Kam ich einmal nicht dazu, meine Lieblingsserie zu schauen, warteten die Folgen einfach auf mich. Und konnte ich es angesichts eines fiesen Cliffhangers nicht abwarten, nun, dann schaute ich mir die nächste Folge eben auch noch an.

Ich weiß, dass viele unter Binge Watching verstehen, mehrere Folgen hintereinander zu schauen oder sogar eine ganze Staffel in einem Rutsch zu „verschlingen“. Mir geht es aber vielmehr darum, selbst entscheiden zu können. Da mittlerweile viele Serien eine durchgehende Handlung haben, also nicht mehr episodisch strukturiert sind, ist es für das Verständnis oft besser, sie am Stück zu schauen. Am Stück heißt aber nicht zwangsläufig, alles auf einmal, sondern vielleicht auch nur eine Folge pro Tag.

Bei mir hat sich so in den letzten Jahren herauskristallisiert, dass ich einzelne Serien am besten genießen kann, wenn ich nicht durch andere abgelenkt werde. Während ich anfangs also noch gierig fünf Serien gleichzeitig schaute, habe ich inzwischen keine Angst mehr davor, meine Watchlist zu füllen und in Ruhe eine Show nach der anderen zu gucken. Auf die Weise kann ich mich viel besser auf einzelne Geschichten einlassen und sie wie bei einem Film als zusammenhängende Erzählung genießen.

Zurück in die Vergangenheit

Doch das Streaming steckt in der Krise. Angelockt vom Erfolg des Mediums, will nun jedes Studio sein eigenes Stück vom Kuchen haben. Immer mehr Streamingdienste schießen aus dem Boden, immer breiter verteilt sich das Angebot, immer weniger gibt es in der Folge bei den einzelnen Diensten zu sehen. Längst sind die Kunden dazu übergegangen, eine Art Streamer-Hopping zu praktizieren, einzelne Dienste also nur noch monatsweise zu abonnieren und dann weiterzuziehen. Das ist für die wiederum ein Problem, denn sie wollen natürlich gerne weiterhin ganzjährig Einnahmen generieren.

Was die Streamer offenbar für die Lösung halten: die Fernsehfizierung ihres Programms. Im Bestreben, den Zuschauer bei jeder noch so mittelmäßigen Serie die maximale Zeitspanne an den eigenen Dienst zu fesseln, werden neue Folgen häufig nur noch wöchentlich online gestellt. War es früher ein großes Event, wenn eine ganze Staffel auf einmal kam, ist es heute nur noch ein Tröpfeln, das darüber hinwegtäuschen soll, dass das Angebot insgesamt kleiner wird. Und der Serienfan ist zurück bei seinen Listen.

Was kommt als nächstes?

Natürlich, werdet ihr einwenden, ist das immer noch viel mehr Freiheit als es das Fernsehprogramm jemals bot. Sind die Folgen einmal online, bleiben sie das in der Regel auch eine Weile, man kann also immer noch selbst entscheiden, wann man sie schauen möchte. Das ist alles richtig, und ich nehme es niemandem übel, der das als „First World Problem“ abhakt.

Für mich ist es ein nervtötender Trend, der mir die Arbeit als Reviewer erschwert und mich wieder anfälliger für Spoiler gemacht hat. Weil ich nun bis zu zwei Monate warten muss, bevor eine Staffel vollständig ist, so dass ich sie am Stück schauen kann, muss ich zwei Monate lang aufpassen, welche Reviews ich lese, welche Podcasts ich höre, wessen Instagram ich folge. Und das eben nicht nur für eine Serie, sondern immer für drei oder vier gleichzeitig.

Bei all dem stellt sich mir die Frage: Geht die Strategie für die Streaminganbieter überhaupt auf? Mag ja sein, dass die Leute für ein Spektakel wie „Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht“ wöchentlich einschalten, aber für die x-te Teenieserie? Mein Gefühl sagt mir, die machen sich was vor. Und ein bisschen fürchte ich mich auch davor, was ihnen als nächstes einfällt, um die Kunden zu „binden“.