Bücherstapel | Margaret Atwood „Die Zeuginnen“

„Wie unendlich blöd war ich gewesen, an den ganzen Quatsch zu glauben – Leben, Freiheit, Demokratie und die individuellen Rechte, wie ich sie im Studium verinnerlicht hatte. Dies seien ewige Werte, und wir würden sie stets verteidigen. Ich hatte mich darauf verlassen wie auf einen Zauber.“

Drei Frauen erzählen

Tante Lydia berichtet in „Das Hologramm von Haus Ardua“, einem heimlich verfassten Tagebuch, von den Anfangstagen der Machtübernahme durch die Söhne Jakobs. Sie erzählt, wie sie und andere Akademikerinnen wie Tiere zusammengepfercht wurden, um sie zu brechen, und wie sie schließlich mitspielte, um zu überleben. Die Zeugenaussagen der in Gilead aufgewachsenen Agnes und der als Kurier aus Kanada nach Gilead geschmuggelten Daisy ergänzen den Bericht. Sie dokumentieren, wie Tante Lydia die beiden Halbschwestern zusammenbringt und ihnen zur Flucht verhilft, um Informationen nach Kanada zu schaffen, die den Gottesstaat Gilead zu Fall bringen könnten.

„Eine Zeit lang glaubte ich fast selbst, was ich meinem Verständnis nach glauben sollte. Ich zählte mich aus demselben Grund zu den Gläubigen wie viele andere in Gilead: weil es weniger gefährlich war. Was nützt es, sich aus moralischen Gründen vor eine Dampfwalze zu werfen und platt walzen zu lassen wie eine Socke ohne den Fuß darin. Dann lieber mit der Menge verschmelzen, der gottesfürchtigen, geschmeidigen, Hass schürenden Menge. Lieber Steine werfen als mit Steinen beworfen zu werden. Auf jeden Fall sind da die Überlebenschancen höher. Das wissen sie allzu genau, die Architekten Gileads. Ihre Sorte hat es immer schon gewusst.“

Zu wenig Raum für eigene Gedanken

Ich muss gestehen, dass es mir ungewöhnlich schwer fällt, meine Leseerfahrung mit Margaret Atwoods „Die Zeuginnen“ in Worte zu fassen. Ihr Roman „Der Report der Magd“ gilt als moderner Klassiker, als Dystopie in der Tradition von „1984“ oder „Schöne neue Welt“. Was das Buch für mich so bedrückend machte, war aber nicht allein die Tatsache, dass die darin geschilderte Zukunft durchaus denkbar schien. Es war auch die Nüchternheit der Erzählung, die einen mit einem offenen Ende zurücklässt. Vor allem dieses Ende ließ mich lange zögern, ob ich die „Fortsetzung“ überhaupt lesen soll.

Der Stil des Vorgängers wurde bei den „Zeuginnen“ im Wesentlichen beibehalten, auch wenn dem Roman die Ruhe und Introspektive fehlen. Waren es im „Report“ Desfreds Tonbandaufnahmen, die ihre Leidensgeschichte aufrollten, sind es hier ein Tagebuch und zwei Zeugenaussagen. Diese laufen zunächst unabhängig voneinander, beginnen sich aber nach und nach zu überlappen, als die Protagonistinnen aufeinandertreffen. Das heißt, wir haben eine sehr subjektive Sichtweise, und da wir uns der jeweiligen Motive nicht immer sicher sein können, handelt es sich streng genommen um unzuverlässige Erzählerinnen. Das ist durchaus reizvoll, da ein Mädchen, das im restriktiven Gilead aufgewachsen ist, die Gesellschaft natürlich anders bewertet als eines, das aus der „freien Welt“ kommt. Und jemand, der die Entstehung dieses totalitären Staats miterlebt hat, hat wiederum einen ganz anderen Blickwinkel.

Hinzu kommt, dass mir erschreckend viele Passagen in dem Buch vertraut vorkamen. In einer Weise, wie das vor vier, fünf Jahren vielleicht noch nicht der Fall gewesen wäre. Da geht es beispielsweise um die (scheinbare) Unverletzlichkeit der Verfassung, auf die wir blind vertrauen. Um Freiheit, die wir als selbstverständlich betrachten, bis sie es plötzlich nicht mehr ist. Und nicht zuletzt um Meinungsdiktatur, der man sich aus Angst vor Repressalien, nicht aus Überzeugung anschließt. All das macht die Lektüre von „Die Zeuginnen“ unangenehm, aber auch wichtig. Denn obwohl ich den Roman nicht auf eine Stufe mit „Der Report der Magd“ stellen möchte, beweist Margaret Atwood doch einmal mehr, dass sie ein Gespür für gesellschaftliche und politische Tendenzen hat – und ein Talent dafür, den Finger in die Wunde zu legen.

Was für mich leider überhaupt nicht funktionierte, ist das am Ende angedeutete Happyend. Wie bereits gesagt, seine Stärke bezog der Vorgängerroman auch daraus, dass er offen endete. Der Leser konnte sich selbst ausmalen, wie es Desfred erging, nachdem sie abgeholt wurde. Schon die Fernsehserie, die aktuell bereits in die vierte Staffel geht, hat diese Aussage verwässert, und vieles von dem, was in „Die Zeuginnen“ geschildert wird, beruht eindeutig auf dieser Serie. (Was nicht überraschend ist, da Atwood daran mitwirkt.) Zugegeben, eine Dystopie muss nicht zwingend negativ enden. Doch mir fehlte bei dem Buch die Durchschlagkraft, dieses Gefühl, mit meinen Gedanken allein gelassen zu werden. Und das raubt, so bitter es klingt, nachträglich auch dem „Report“ einen Teil seiner Wucht.

3 von 5 Bananen mit Perlenkette.