Bücherstapel | Kate Wilhelm „Hier sangen früher Vögel“

„Arbeit im Klassenzimmer, auf den Feldern, in den Küchen, in den Labors. Sie arbeiteten unaufhörlich, jeder auf jedem Gebiet, auswechselbar – die erste wirklich klassenlose Gesellschaft.“

Das Ende der Menschheit

Die Sumners spüren das Ende kommen und versammeln die weitläufige Familie in einem abgelegenen Tal. Dort bauen sie eine Klinik mit unterirdischem Labor und legen so viele Vorräte wie nur möglich an. Bald darauf wird ein Großteil der Menschheit durch Klimakatastrophen, Hungersnöte und schließlich Unfruchtbarkeit vernichtet. David Sumner gelingt es, die Versorgung durch das Klonen von Nutztieren aufrechtzuerhalten – und wagt sich schließlich auch ans Klonen von Menschen. Doch die Klone sind anders als sie, sie schotten sich ab und gründen eine völlig neue Gesellschaft aus Brüdern und Schwestern. Diese halten sexuelle Reproduktion für überholt und wollen stattdessen das Klonen perfektionieren.

„Klonen ist ein sehr schlechter Weg für die höheren Arten“, sagte David langsam. „Es unterdrückt Vielfalt, das weißt du.“ Seine Beine schienen immer schwächer zu werden, seine Hände begannen zu zittern. Er hielt sich an der Tischkante fest.
„Du gehst davon aus, dass Vielfalt nützlich sei. Vielleicht ist das aber nicht der Fall“, sagte W-1. „Ihr zahlt einen hohen Preis für eure Individualität.“

Das Ende der Menschlichkeit

„Hier sangen früher Vögel“ ist eines jener seltenen Bücher, die mich kalt erwischt haben. Das harmlose, ja idyllische Cover sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kate Wilhelms Roman nichts Geringeres ist als der schonungslose Bericht vom Niedergang der Menschheit und dem Aufstieg einer neuen, fremdartigen Zivilisation. Das bereits 1976 erschienene Werk gehört zu den eher unbekannten Dystopien, wagt aber die vielleicht krasseste Zukunftsvision. Und anders als viele andere Vertreter des Genres lässt Wilhelm das Buch dabei durchaus hoffnungsvoll ausklingen.

(Es folgen milde Spoiler zur Handlung, die den Lesegenuss meiner Meinung nach nicht einschränken. Bei der Lektüre ist die Psychologie entscheidender als der Plot.)

Erzählt wird die Geschichte in drei Teilen. Der erste war für mich der bedrückendste, denn wir erleben die letzten Tage der menschlichen Zivilisation, die plötzlich nur noch als der Familie Sumner zu bestehen scheint. Was im Großen passiert, erfahren wir dabei nur in Nebensätzen, zum Beispiel durch den Angriff marodierender Banden. Doch auch ihre kleine Gemeinschaft ist längst dem Untergang geweiht, selbst wenn sie dank der guten Vorbereitungen zunächst der Illusion erliegen, dass sie gerettet wurden. Die Männer werden unfruchtbar, und die wenigen noch fruchtbaren Frauen erleiden eine Totgeburt nach der anderen. Sie alle wissen, dass es unaufhaltsam ist, aber sie klammern sich an die Hoffnung, dass das Kloning ihre Gene erhalten wird. Nur: Was sie erschaffen, sind keine Menschen mehr.

Der zweite Teil des Buchs schildert die Gesellschaft, die die Klone nach dem Tod der „Alten“ erschaffen haben. Es gibt keine Individuen mehr, nur noch Gruppen von jeweils fünf absolut gleichen Brüder und Schwestern. Wichtige Fähigkeiten zum Erhalt und Betrieb der Technik werden auf diese Weise weitergegeben. Doch ihre Vorräte vor allem an wichtigen Chemikalien neigen sich dem Ende entgegen, und so schicken sie eine Expedition in die Ruinen Washingtons. Die Trennung von ihren Brüdern und Schwestern treibt einen Großteil der Teilnehmer in den Wahnsinn. Auch Molly verändert sich, worauf Ben sie isoliert von der Kolonie unterbringt, damit er sie studieren kann. Aus ihrer heimlichen Beziehung geht ein Sohn hervor, der fünf Jahre lang unentdeckt bleibt.

Dieser Sohn, Mark, steht schließlich im dritten Teil im Mittelpunkt. Seine Mutter kann nach der Entdeckung fliehen, rät ihm aber, sich einzufügen und so viel zu lernen, wie er nur kann. Dennoch bleibt er ein Außenseiter, von seinen Altersgenossen sowohl verachtet als auch bewundert. Denn Mark besitzt Fähigkeiten, die den Klonen längst abhanden gekommen sind. Diese sind zwar in der Lage, alles zu erlernen und Anweisungen exakt zu befolgen, doch keiner von ihnen besitzt mehr Kreativität oder Erfindungsgeist. Die Gesellschaft ist zum Stillstand gekommen, hofft aber noch immer, sich durch Expansion fortzuentwickeln.

Kate Wilhelms „Hier sangen früher Vögel“ ist gewiss kein Roman, den man mal eben nebenbei schmökert. Vielmehr verlangt er einem ab, sich in völlig neue Denkweisen einzufühlen, um zu verstehen, was die Protagonisten antreibt. Das ist faszinierend und abstoßend zugleich, vor allem, wenn man versteht, das Erzählte zu abstrahieren. Die Utopie einer Gesellschaft absoluter Gleichheit? Das wird man sich nach dieser Lektüre vielleicht noch mal überlegen. Denn Vielfalt bedeutet eben nicht nur Individualität mit all ihren gesellschaftlichen Reibungspunkten, sondern ist auch Voraussetzung für jede Form von Fortschritt. Sie macht den Unterschied zwischen Existieren und Leben aus.

5 von 5 geklonten Schwestern-Bananen.