Ein Plädoyer gegen den Cliffhanger

Cliff|han|ger, der: große Spannung hervorrufendes dramatisches Ereignis am Ende einer Folge einer Rundfunk-, Film- oder Fernsehserie oder eines Buchkapitels, das die Neugier auf die Fortsetzung wecken soll. (Duden)

Der Cliffhanger, das offene Ende, ist so alt wie die Unterhaltungsindustrie selbst. Den Begriff als solchen prägte Thomas Hardy mit „A Pair of Blue Eyes“, das 1873 als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift erschien. Eine Folge endete damit, dass sich der Protagonist nur noch an einem Grasbüschel über einem Steilhang festhält. Er hing wortwörtlich an der Klippe – und mit ihm das gespannte Publikum. Man stelle sich nur mal vor, die Zeitschrift hätte an dieser Stelle beschlossen, die Geschichte nicht weiter zu veröffentlichen.

Die Funktion eines Cliffhangers

Heute ist der Cliffhanger vor allem ein Phänomen von Fernsehserien. Nur wenige Kinofilme nutzen die Technik, selbst in Büchern ist sie in dieser extremen Form selten, sofern es sich nicht um eine klar definierte Reihe handelt. In Serien finden sich Cliffhanger häufig am Ende der ersten Folge eines Zweiteilers, vor allem aber als Abschluss einer Staffel.
Die Absicht dahinter ist klar: Der Zuschauer soll motiviert werden, auch die nächste Staffel zu schauen, selbst wenn diese erst ein halbes oder ganzes Jahr später kommt. Bei den großen Soaps der 1980er nutzte man Cliffhanger oft sogar dazu, sich alle Optionen offenzuhalten, wenn Honorarverhandlungen mit den Schauspielern bevorstanden.

Der Cliffhanger ist nicht mehr zeitgemäß

Hier zeigt sich aber auch schon das zentrale Problem des Cliffhangers: Seine Nutzung ist seit fast fünfzig Jahren unverändert. In der Zeit aber haben sich Form, Distribution und Rezeption von Serien grundlegend gewandelt. In den 1990ern beispielsweise war eine Staffel oft noch nicht einmal abgedreht, während sie bereits im Fernsehen lief. Die Einschaltquoten dienten als konkreter Gradmesser, welche Plots funktionierten und welche nicht (und das bei durchschnittlich 20 Folgen über einen Zeitraum von Monaten).
Auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlte: Gemessen an heutigen Maßstäben, waren die produzierenden Studios damals unfassbar geduldig. Sie gaben auch Serien eine Chance, die nicht auf Anhieb ein Millionenpublikum erreichten. Heute entscheiden mitunter Tage darüber, ob die Zugriffszahlen ausreichen, damit ein Streamingdienst eine Serie verlängert. Zu dem Zeitpunkt ist die Staffel in der Regel schon seit Monaten abgedreht – inklusive Cliffhanger, weil man sich ganz sicher war, dass noch eine Staffel bewilligt wird.

Ein Friedhof unvollendeter Serien

Vielleicht habt ihr schon einmal vom Zeigarnik-Effekt gehört. Die russische Psychologin Bluma Zeigarnik stellte in den 1920er-Jahren fest, dass wir uns häufig besser an Handlungen erinnern können, die unvollendet unterbrochen wurden. Obwohl es sich dabei um ein Phänomen der Gestaltpsychologie handelt, lässt sich das fast eins zu eins auf die Rezeption von Serien übertragen. Nicht von ungefähr erinnern wir uns wohl alle noch an diese eine wahnsinnig tolle Serie, die vor fünf Jahren ohne Auflösung abgesetzt wurde.
„Moonlight“, „The OA“, „Terra Nova“, „I am not okay with this“ und ganz frisch „1899“ sind nur einige der Serien, bei denen ich mich frage, wie die Geschichte wohl weitergegangen wäre. Vielleicht mag man das als Erfolg sehen, denn an die Serien mit ordentlichem Ende denke ich zweifellos seltener, aber kann das Sinn der Sache sein? Ich für meinen Teil plädiere jedenfalls dafür, dass Serienschöpfer endlich auch erzählerisch in der Gegenwart ankommen und künftig auf Cliffhanger verzichten. Denn die nächste Staffel ist niemals sicher.