Bücherstapel | Claire North „Die vielen Leben des Harry August“

„Die Verflechtung aller Dinge gebietet Nichtstun.“

Und täglich grüßt der Cronus Club

Als Harry August das erste Mal wiedergeboren wird, glaubt er, verrückt geworden zu sein, und stürzt sich noch als kleiner Junge aus dem Fenster. Im nächsten Leben stößt er bei seinen Recherchen auf den Cronus Club und erfährt so, dass er einer von vielen sogenannten Kalachakras ist. Menschen wie er werden immer wieder in das gleiche Leben geboren, dürfen mit ihrem Wissen jedoch keinen Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen, da das katastrophale Auswirkungen auf die Zukunft haben könnte. Vincent Rankis ist das egal, er hat es sich zum Ziel gesetzt, über mehrere Lebensspannen hinweg einen Quantenspiegel zu bauen, um alle Geheimnisse des Universum zu entschlüsseln. Fasziniert von der Idee, hilft ihm Harry zunächst, wendet sich dann jedoch gegen ihn. Als er im nächsten Leben wiedergeboren wird, ist die Welt eine andere.

Auf ewig im eigenen Leben gefangen

Claire Norths „Die vielen Leben des Harry August“ ist – kurz gesagt – ein Geniestreich, der nicht nur Phantastik-Fans begeistern dürfte. Die Prämisse ist faszinierend, geht es doch faktisch um Unsterblichkeit – wenngleich mit der Einschränkung, dass sich zwar die Kalachakra weiterentwickeln, nicht jedoch die Epoche, in der sie jeweils leben. Dem Roman gelingt es dabei einerseits, eine fesselnde Geschichte zu erzählen, die von moralischer Verantwortung, aber auch von der Sehnsucht nach Veränderung handelt. Andererseits geht es aber auch um die Psychologie der Freunde/Feinde Harry und Vincent. Darum, wie Vincent den scheinbar unwissenden Harry in Abhängigkeiten verwickelt, während dieser längst zum Gegenschlag ausholt.

Dass ich gleich zu Beginn eine solche Lobeshymne anstimme, hat seinen Grund. Ich halte es für wichtig, hervorzuheben, dass das Buch sehr vieles richtig macht. Einige, wenn nicht gar alle Fragen, die mich während der Lektüre (und darüber hinaus) beschäftigt haben, sind wohl eher meine persönliche Interpretation. Sie sind weniger als Kritik als vielmehr als Denkanstoß zu verstehen. Für mich war es zum Beispiel ein riesengroßes Plus, dass die Geschichte nicht durchgehend chronologisch erzählt wird. Harry springt immer wieder zwischen seinen Leben hin und her, erzählt Anekdoten, zieht Vergleiche. Gleichzeitig führt das dazu, dass man beim Lesen manchmal nicht genau weiß, was Harry zum geschilderten Zeitpunkt bereits erlebt hat und wie alt er in Wirklichkeit ist. An ein oder zwei Stellen hat sich meines Erachtens sogar die Autorin vertan, wo Anzahl der Leben und Gesamtalter des Protagonisten nicht recht zusammenpassen.

Was mich beim Lesen am meisten irritiert hat, ist die Tatsache, dass nicht einmal der Versuch unternommen wird, die Natur der Kalachakra zu erklären. Das ist einfach nicht Thema des Romans und somit eine bewusste Entscheidung, aber auch ein bisschen schade, weil dadurch vieles unklar bleibt. Sind diese Menschen in einer Zeitschleife gefangen? Entsteht mit jedem neuen Leben eine neue Dimension? Wie sieht die „richtige“ Ordnung der Dinge aus? Und wieso werden manche Menschen plötzlich als Kalachakra wiedergeboren? (Für bestehende Kalachakra muss derselbe Mensch zuvor ja mehrere Durchgänge lang linear gewesen sein.)

Am Ende bekam ich ernsthaft Kopfschmerzen davon, dass ich versuchte, mir diese Welt logisch zu erklären. Wenn man beispielsweise davon ausgeht, dass es eine Art von Zeitschleife ist, sind doch eigentlich alle Menschen darin gefangen, und der einzige Unterschied der Kalachakra ist, dass sie sich dessen bewusst sind und sie deshalb beeinflussen können, oder? So gesehen gibt es auch keinen festgeschriebenen Lauf der Dinge, weil schon die Wahl eines anderen Berufs alles ändert, bis hin zu den Menschen, denen man begegnet und die man beeinflusst. Claire North verwendet mehrmals die Begriffe linear und nicht-linear, um ihr Universum zu beschreiben, aber für mein Empfinden ist bereits der Begriff von Zeit irreführend, weil hier eigentlich alles jederzeit und immer und gleichzeitig passiert.

Im letzten Viertel kristallisiert sich dann nach und nach heraus, dass es im Grunde nur eine einzige Möglichkeit gibt, die immer schneller fortschreitende Technisierung und den offenbar daraus folgenden Weltuntergang zu verhindern. Ich war lange unsicher, ob es überhaupt ein Ende geben kann, das auch nur annähernd zufriedenstellend ist. Die Antwort lautet: jein. Und an dieser Stelle folgt nun auch eine entschiedene Spoilerwarnung – zum Weiterlesen bitte markieren: Also, Harry rettet Vincents Leben, als die Inbetriebnahme des Quantenspiegels fehlschlägt. Vincent ist gerührt von so viel Opferbereitschaft, und weil er Harry ohnehin wieder dem Vergessen unterziehen will (von dem er noch immer nicht ahnt, dass es bei ihm nicht funktioniert), erzählt er ihm, wo und wann er geboren wird und wie seine Eltern heißen. Er gibt ihm bereitwillig alles an die Hand, um ihn noch vor der Geburt zu töten. Warum? Warum vor allem in dieser Ausführlichkeit? Auf mich wirkte das wie dieses Klischee aus Bond-Filmen, wenn der Bösewicht seinen Plan in allen Einzelheiten darlegt, weil er ihn sowieso töten will. Das ist leider arg konstruiert und nimmt dem Ende so ein bisschen die Schwere. (Ich habe überlegt, ob Vincent nicht vielleicht unterbewusst längst weiß, dass Harry sich erinnert, und seinem Leben quasi selbst ein Ende bereiten will. Aber falls dem so ist, wurde es nicht gut herausgearbeitet.)

„Die vielen Leben des Harry August“ ist eines der seltenen Bücher, die man nahezu uneingeschränkt jedem empfehlen kann. Und zwar erfahrenen Phantastik-Lesern ebenso wie Leuten, die mit dem Genre sonst gar nichts anfangen können. Denn im Grunde erzählt Claire North von einer ungewöhnlichen Freund/Feind-Beziehung, die sich nur eben über mehrere Lebensspannen erstreckt. In puncto Lesefluss ist das Buch sogar ein echter Schmöker mit einem Schreibstil, der nicht weiter auffällt, einen aber kontinuierlich bei der Stange hält. Und der Brainfuck ist definitiv nicht ohne. 😆

4 ½ von 5 Bananen, die schon wieder eine langweilige Kindheit durchstehen müssen.