Literatur am Samstag | Ein Nikolausmärchen

Der Gelf ist eines jener Wesen, die später Teil des Arwel-Universums werden sollten. Die vorliegende Geschichte aber entstand zunächst als für sich stehendes Weihnachtsmärchen irgendwann Ende der Neunziger. Und wer „Die Detektelfe“ gelesen hat, weiß natürlich längst über die Toilette am Nordpol Bescheid …

Der Nordpol ist eine ziemlich öde Gegend. Die meisten Menschen glauben fälschlicherweise, dass es nichts Langweiligeres gibt als Wüsten, aber da begegnet einem ja noch wenigstens ab und zu eine Fata Morgana. Der Nordpol hingegen … nun ja, rings um einen erstrecken sich nichts als strahlend weiße Ebenen.

Am Nordpol gibt es im Ganzen nur drei Häuser. Das eine ist die Fabrik des Weihnachtsmannes, und einige Kilometer weiter steht eine Post. Niemand weiß so recht, wozu sie eigentlich da steht, nur wenige glauben, dass sie dem Weihnachtsmann all die Wunschzettel bringt, die kleine hoffnungsvolle Kinder schreiben, womit sie ihre Eltern übrigens in den Wahnsinn treiben, denn das Porto für einen Brief zum Nordpol ist ganz schön hoch. Die Post steht jedenfalls schon sehr lange hier – ungefähr, seit die Dinosaurier gemerkt haben, dass der Nordpol für sie doch ein wenig zu kalt ist, also viel länger als die Fabrik des Weihnachtsmannes. Das dritte Haus schließlich ist ein kleines Toilettenhäuschen, das neben der Post steht. Allerdings handelt es sich dabei nur um eine Attrappe, denn es gibt am Nordpol schließlich keine Kanalisation; niemand weiß wirklich, wo sich die wenigen Bewohner des Nordpols erleichtern. Weder die Anthropologen noch die Chaostheoretiker haben bisher darauf eine Antwort finden können, was daran liegen mag, dass dieses Problem gar nicht in ihre wissenschaftliche Zuständigkeit fällt. Sie sind nur eben die Einzigen, die sich dafür interessieren.

An diesem Morgen zeigte sich der Nordpol von seiner schönsten Seite. Es war einige Grad wärmer als sonst, und die Sonne tauchte die Umgebung in glitzerndes Licht. Auch der Gelf, der auf einer Bank vor der Post saß, bewunderte dieses Spektakel, trotzdem sah er nicht gerade glücklich aus.

Gelfs sind die wohl wundersamsten Wesen, die es gibt. Sie sind ungefähr so groß wie Zwerge, ihre Nasen sind rund und knollig und erinnern mehr oder weniger an kleine Kartoffeln, ihre Augen hingegen sehen aus wie Knöpfe. Kaum einer würde glauben, dass Gelfs mit diesen kleinen Knopfaugen über ihre Kartoffel … Verzeihung, Nase hinwegsehen können. Die meisten Gelfs haben rote oder strohblonde Haare, zumindest ist mir noch keiner begegnet, der eine andere Haarfarbe gehabt hätte.

Aber gut, das alles macht Gelfs noch nicht besonders interessant, die meisten Elfen haben Ohren, die wesentlich spannender sind als die Nasen der Gelfs. Was sie wirklich besonders macht, ist ihre Ausstrahlung. Ihr glaubt das vielleicht nicht, aber Gelfs lösen in jedem Lebewesen den dringenden Wunsch aus, ihn zu beschenken. Und damit meine ich nicht, dass sie ihm ein klebriges Bonbon aus ihrer Hosentasche in die Hand drücken, sondern dass ausnahmslos jedes Lebewesen einem Gelf ohne Zögern den neuesten und modernsten Fernseher schenken möchte, den es gibt. Den Gelfs ist das eigentlich eher unangenehm, und keiner von ihnen würde etwas annehmen, was über den Wert eines Kochtopfs hinausgeht. Diese Grenze haben sie sich selbst schon vor Generationen gesteckt, aber zu erläutern, was es mit dem Kochtopf auf sich hat, würde den Rahmen sprengen.

Der Gelf am Nordpol hatte genau deswegen schlechte Laune. Vor wenigen Minuten hatte ihm der Herr hinter dem Postschalter einen Präsentkorb in die Hand gedrückt. Nicht einmal am Nordpol war man also davor sicher, beschenkt zu werden! Im übrigen glaubte dieser Gelf, dass er der einzige seiner Art auf der Welt sei, weil er noch nie einen anderen Gelf gesehen hatte. Tatsächlich war er der einzige Gelf am Nordpol, doch nur zwei Orte von seiner Heimatstadt entfernt lebte ein zweiter Gelf, der haargenau derselben Ansicht war und ungefähr dieselbe zweifelhafte Beweisführung vorgenommen hätte, um genau diese Meinung zu untermauern. Aber dieser Gelf soll nicht mein Thema sein, denn er war nur Steuerberater, und ein Gelf am Nordpol ist weitaus spannender, glaubt mir.

Der Gelf am Nordpol saß nun also auf seiner Bank vor der Post, den Koffer und den Präsentkorb neben sich, in den kleinen knubbeligen Händen einen Zeitungsausschnitt. „Weihnachtsmann sucht Aushilfe“, stand da. Und weiter: „Handwerkliche Geschicklichkeit, weihnachtliche Gesinnung und geringe Körpergröße werden vorausgesetzt.“ Darunter die Telefonnummer des Weihnachtsmannes. Das Gespräch hatte den Gelf ein kleines Vermögen gekostet, denn dass der Weihnachtsmann am Nordpol wohnt, war ihm leider recht spät aufgegangen. Wenigstens hatte er den Job bekommen und wartete nun auf den Schlitten, der ihn abholen und zur Fabrik des Weihnachtsmannes bringen sollte.

Während er das tat, dachte der Gelf darüber nach, wozu am Nordpol eine Post gebraucht wurde. Ehrlich gesagt glaubte er nicht, dass der Weihnachtsmann so viel Fanpost bekam. Welche Frau konnte schon ernsthaft auf einen alten, weißbärtigen Fettklops stehen, der noch dazu am wichtigsten Abend des Jahres nicht zu Hause war? Die Gedanken des Gelfs verselbständigten sich nach einer Weile und begann, über den Weihnachtsmann nachzugrübeln.

Er war ihm persönlich ja noch nie begegnet, im Grunde wusste er gar nichts über ihn. Aus seiner Kindheit erinnerte er sich dunkel, dass der Weihnachtsmann ein Rentier hatte, dessen Nase rot leuchtete. Als Kind hatte er davon Alpträume bekommen und Stunden damit zugebracht, zu überlegen, wo der Schalter für das Licht sein mochte. Oder was der Weihnachtsmann machte, wenn die Glühbirne mal kaputt ging. Konnte man die Nase des Rentiers austauschen? Und wie der Weihnachtsmann es schaffte, Kindern auf der ganzen Welt in nur einer Nacht Geschenke zu bringen, war dem Gelf auch schleierhaft. Er hatte er ja noch nicht einmal geschafft, an einem Nachmittag seine Nachbarschaft mit Zeitungen zu beliefern.

Plötzlich wurde er durch ein beständig lauter werdendes Schleifen aus seinen Gedanken gerissen. Der Gelf blickte von dem Zeitungsausschnitt auf und entdeckte den bunt bemalten Schlitten, der sich langsam der Post näherte. Das musste sein Begrüßungskomitee sein. Erwartungsvoll erhob sich der Gelf und winkte dem Schlitten zu.

Schließlich langte er bei ihm an und hielt. Vor das Gefährt waren vier Rentiere gespannt und auf der vorderen Bank saß, mit den Zügeln in der Hand, ein Zwerg, der noch um einige Zentimeter größer war als der Gelf. Als der Zwerg ihn erblickte, ließ er die Zügel augenblicklich sinken und griff in seine Jackentasche, aus der er einen großen Apfel hervorholte. „Willkommen am Nordpol“, begrüßte der Zwerg den Gelf und reichte ihm den blankpolierten Apfel.

„Danke“, entgegnete er und griff eilig nach dem Apfel, bevor dem Zwerg vielleicht noch einfiel, ihm doch lieber den Schlitten zu schenken. Die Kochtopfdirektive war dem Gelf heilig.

Dann stieg er in den Schlitten und setzte sich auf die hintere Bank. Die bereitliegende Decke warf er sich über die Beine, wodurch er neben sich genug Platz hatte, um seinen Koffer und den Präsentkorb abzustellen. Kaum hatte sich der Gelf so eingerichtet, da trieb der Zwerg auch schon die Rentiere an und jagte sie über die Ebenen. Dem Gelf kam es dabei so vor, als berührten die Kufen des Schlittens gar nicht den Schnee und schwankten stattdessen wild in der Luft hin und her. Das rotbäckige Gesicht des Gelfs färbte sich langsam grün, bis er es schließlich nicht mehr aushielt und nach einer der Papiertüten griff, die jemand in weiser Voraussicht in das Netz an der Lehne der vorderen Bank gesteckt hatte.

Zum Glück dauerte die mörderische Fahrt nicht allzu lange, bereits nach wenigen Minuten erreichten sie die Fabrik des Weihnachtsmannes. Sie sah anders aus, als der Gelf sie sich vorgestellt hatte, denn es handelte sich keineswegs um eine riesige Lagerhalle, sondern um ein zweistöckiges Holzhaus mit Garage. Auf die war der Zwerg offensichtlich sehr stolz, jedenfalls seinem irren Grinsen nach zu urteilen. Erst ein wenig später ging ihm auf, dass es das automatische Garagentor war, auf das er so stolz war. Glücklich drückte der Zwerg auf einen roten Knopf an seiner Fernbedienung, worauf sich das Tor öffnete und den Blick auf einen mehr als doppelt so großen Schlitten freigab. Der Schlitten des Weihnachtsmannes, vermutete der Gelf.

Der Zwerg steuerte seinen Schlitten in eine besorgniserregend enge Ecke der Garage und bedeutete dem Gelf daraufhin, auszusteigen. Noch immer benommen von der temporeichen Fahrt taumelte er mehr als er lief, schaffte es aber, dem Zwerg in einer einigermaßen geraden Linie zu folgen. Neugierig streiften seine Augen die Wände, an denen Bilder von den Vorfahren des Weihnachtsmannes hingen. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen, allen war dieses Großväterliche zu eigen, selbst denen, die kaum die 30 erreicht haben mochten.

Sie langten am Ende des Flurs an, wo der Zwerg eine Tür öffnete, die in die Ideenschmiede führte, wie der Zwerg ihm erklärte. Dabei handelte es sich um einen wohnlich eingerichteten Raum mit vielen Sofas und Sesseln, in dem einige Zwerge herum wuselten, miteinander diskutierten oder dem am Kamin sitzenden Weihnachtsmann neue Ideen unterbreiteten.

„Schuhe aus“, bestimmte der Zwerg, und seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Der Gelf hätte auch nicht widersprochen, der Teppich in diesem Raum sah wertvoll genug aus, um ihn selbst auf diesen Gedanken kommen zu lassen. Er kämpfte sich aus seinen Stiefeln und stellte sie zu den anderen auf ein langes Tuch, das neben der Tür lag. Auch der Zwerg stellte seine Schuhe darauf ab.

„Freunde!“ rief er laut in die Runde der Zwerge. „Hier ist unser neuer Mitarbeiter!“ Augenblicklich wandten sich dem Gelf alle Augen zu, die sich im Raum aufhielten. Gleichzeitig fühlte er beinahe einen körperlichen Ruck, als in allen Zwergen zur selben Zeit der Wunsch entstand, dem Gelf etwas zu schenken. Er stöhnte unwillig, doch da kamen sie auch schon auf ihn zu, hielten ihm Puppen, Holzbausteine und anderes Spielzeug, an dem sie gerade gearbeitet hatten, entgegen. Der Gelf stöhnte nochmals, machte ihnen jedoch die Freude, die Geschenke anzunehmen, solange sie nicht gegen die Kochtopfdirektive verstießen.

Minuten später, als sich die Zwerge wieder ihrer Arbeit zugewandt hatten, stand der Gelf mit all seinen Geschenken noch immer an der Tür und wusste nicht, was er tun sollte. Es irritierte ihn, dass der Weihnachtsmann bisher noch gar nichts gesagt hatte, ja, er hatte sich ja noch nicht einmal umgewandt. Es schien fast so, als sei er als einziger immun gegen diesen Schenkerei-Wahnsinn.

Unschlüssig sah sich der Gelf um, wobei ihm einige der Geschenke aus den Händen fielen. Er grunzte wütend und stopfte die Sachen schließlich einfach in seine Stiefel, die hinter ihm an der Tür standen.

Ja, und so wurde der Brauch erfunden, am 6. Dezember (denn der war an diesem Tag) Geschenke in Schuhe zu stecken. Beim Gelf war das natürlich alles ein bisschen extremer. Er bekam so viele Geschenke, dass sie gar nicht in die Stiefel hineinpassten und einige Nähte platzten und er für vier Tage in der Hütte des Weihnachtsmannes festsaß, bis er neue Stiefel hatte.

Wie es mit dem Gelf weiterging? Ach kommt, das interessiert euch doch gar nicht mehr! Also gut, in aller Kürze. Es stellte sich heraus, dass der Weihnachtsmann tatsächlich immun gegen diesen Effekt war, aber nur, wenn er dem Gelf nicht direkt in die Augen sah. Das stellte nach einer Weile ein echtes Problem dar, denn der Weihnachtsmann mochte den Gelf so sehr, dass er einfach nicht umhin konnte, ihm in die Augen zu sehen, was irgendwann auch den Gelf ziemlich frustrierte, weil er nie in Ruhe arbeiten konnte. Er blieb daher nur für dieses eine Fest in der Fabrik des Weihnachtsmannes, danach reiste er wieder nach Hause. Dort erging es ihm zwar auch nicht anders als am Nordpol, aber immerhin musste er sich keine Vorwürfe machen, weil er jeden Tag etwas vom Weihnachtsmann geschenkt bekam.

Der Gelf lebt übrigens nicht mehr, er ist lange tot. Ich erwähne das nur, damit ihr nicht denkt, das sei irgendein hirnloses Märchen. Diese Geschichte ist wirklich passiert, sonst würden wir heute ja auch kein Nikolaus feiern.

Ein Rat zum Schluss. Solltet ihr irgendwann einmal einem Gelf begegnen, was gar nicht so unwahrscheinlich ist, denn es gibt einige von ihnen auf der Welt, dann schenkt ihm nur eine Kleinigkeit. Ihr glaubt ja gar nicht, wie unglücklich ihr einen Gelf macht, wenn ihr ihm etwas Wertvolleres als einen Kochtopf schenkt.