ZSSD/Interim | STAR TREK: Picard – Oh Captain, mein Captain

Eine kleine Charakteranalyse nach vier Folgen [SPOILER!]

Alt ist er geworden. Der Captain, der für mich so viel mehr war als eine fiktive Figur aus einer Science Fiction-Serie der Neunziger. Von ihm habe ich moralische Grundsätze gelernt, Integrität und Prinzipientreue. Ihm wäre ich bis ans Ende der Galaxie gefolgt. Auch wenn ich natürlich niemals an das leuchtende Vorbild heranreichen werde, das er mir Zeit meiner Kindheit war, prägend war er allemal.

Umso interessanter ist, welchen Weg die in diesem Jahr erschienene Serie Picard einschlägt. Denn sie lässt ihn nicht auf seinem Thron, an dem bislang nur leicht gerüttelt wurde in der Darstellung von Picards Hass auf die Borg. Nein, inzwischen ist er alt geworden, und verbittert über die wenig humanistische – oder sollten wir sagen romulanistische – Grundhaltung der Sternenflotte. Er hat sich zurückgezogen auf sein Weingut, er schmollt, er leckt seine Wunden. Ja, er lässt sogar seine erste Offizierin Raffi im Stich, die emotional darüber verzweifelt und sich in einem heruntergekommenen Trailer mitten in der Wüste mit Alkohol und berauschenden Räucherwaren hängen lässt. Als er sie aufsucht, weil er durch sie an ein Raumschiff kommen will, bringt er ihr ausgerechnet noch mehr Alkohol mit. Und einen kleinen Happen Information, um die seelisch Verletzte zu ködern. Der Spitzenklasse-Diplomat weiß eben, wie man Leute manipuliert.
Denn Picard will ein Schiff. Er braucht eines, denn die Sternenflotte will ihm keines mehr geben. Es spricht Bände, dass er wirklich dachte, Jahre nach seinem rigiden Austritt würde man ihm eines zur Verfügung stellen. Es ist die Arroganz, die schon Q zu Next Generation-Zeiten in ihm bemerkte. Das Alter hat sie nicht abgeschliffen, sondern die Ecken und Kanten noch hervorgearbeitet.

Er will das Schiff, er will eine Crew. Weil er retten will, was von Data übriggeblieben ist.

Natürlich berührt ihn das Schicksal von Dahj als junge, verzweifelte Frau, aber noch mehr das als Datas Tochter. Seinem Vermächtnis, und eventuell der Möglichkeit, ihn zu reproduzieren. Er weigert sich, den Mann, der sich in Nemesis für ihn geopfert hat, aufzugeben – und er ist dafür bereit, über Leichen zu gehen. Auch wenn er dafür die Gefühle von Raffi oder Legolas-Double Elnor verletzen muss.
Die Rücksichtslosigkeit in seinem Vorgehen zeigt sich auch in der Geschichte von Letzterem. Picard lässt Elnor als Kind bei einem weiblichen Assassinenzirkel zurück, wohl wissend, dass es für ihn kein geeigneter Ort sein kann. Doch, gefangen in seiner Verbitterung über das Vorgehen der Sternenflotte, kümmert er sich in den Jahren nach seinem Austritt um niemand anderen als sich selbst, und als er schließlich zu ihm zurückkehrt, hat er keine Zeit für dessen Fragen nach dem Warum. Er will ihn rekrutieren, weil er ihn braucht, weil er selbst Fragen hat, auf die er zuerst Antworten möchte.

„Because you could not save everyone, you chose to save no one.“ (Zani, Ep.4)

Auch wenn sich das sehr kritisch anhört, mich hat die Wandlung überzeugt. Ja, er ist alt, ja, er ist verbittert, und die Art, wie er die suchtkranke Raffi mit Wein ködern will, ist schlichtweg diabolisch. Aber ich nehme ihm ab, dass er die ganze prinzipientreue, Regeln befolgende, immer moralisch überlegene Art über Bord geworfen hat. Er war all das aus Überzeugung, für die Sternenflotte, doch auch diese wird ihrem Ideal nicht mehr gerecht. Beide sind beschädigt, verbogen, ihre Ziele sind nicht mehr dieselben, und der Weg, sie zu erreichen, erst recht nicht.
Wenn das überhaupt geht, dann mag ich diesen Picard noch mehr. Ich bin auch nicht mehr das blauäugig zu ihm aufschauende Kind. Auch ich habe mich verändert und sehe vieles nicht mehr so idealistisch wie damals. Ich mag, wie er Dinge nicht immer abwägt und gegen seinen moralischen Kompass tariert. Dass er auch mal grob und verletzend ist. Dass er zu Raffi und Elnor sinngemäß sagt: „Okay, du denkst, ich habe dich im Stich gelassen, tut mir ja auch wirklich leid, aber kommst du jetzt mit oder nicht?“
Er ist alt geworden, und ihm läuft die Zeit davon. Die Zeit, die er bräuchte für Diplomatie, für Rücksichtnahme und Umsicht im Umgang mit seinen Crewmitgliedern. Er macht das wett mit einem verschmitzten Lächeln und der unvergleichlichen Aura eines geborenen Anführers. Und wieder folgen sie ihm alle quer durch die Galaxie.

Ich bin gespannt, wohin die Reise noch geht. Wie weit Picard gehen wird. Und ob sie nicht nur an seinem Podest rütteln, sondern ihn davon herabholen wollen.
Ich glaube jedoch nicht, dass der besondere Glanz, der ihn umgibt, je verschwinden wird. Er ist immerhin DER Jean-Luc Picard, der Tausenden von Jugendlichen eine besondere Art von Vaterfigur war. Und immer bleiben wird.

DER Captain. Mein Captain.