Bücherstapel | Walter Tevis „Mockingbird“

They had given robots to the world with the lie that they would save us from labor or relieve us from drudgery so that we could grow and develop inwardly. Someone must have hated human life to have made such a thing – such an abomination in the sight of the Lord.

Eine Welt ohne Worte

Die ferne Zukunft. Dank hochentwickelter Androiden jeder sinnvollen Beschäftigung beraubt und durch steten Drogenkonsum ruhiggestellt, ist die Menschheit nur noch ein Schatten ihrer selbst. Als es dem Professor Paul Bentley gelingt, sich mithilfe eines alten Lehrbuchs das Lesen und Schreiben wieder beizubringen, wendet er sich an die Universität von New York, um es dort zu unterrichten. Da das jedoch verboten ist, erhält er von Spofforth, einem Make Nine Androiden, stattdessen den Auftrag, die Texte alter Stummfilme auf Band zu sprechen. Zur gleichen Zeit lernt Bentley Mary Lou kennen und bringt ihr heimlich das Lesen bei. Doch je mehr die beiden lernen, desto größer wird ihre Wissbegier, was Spofforth schließlich zum Eingreifen zwingt.

My upbringing, like that of all the other members of my Thinker Class, has made me into an unimaginative, self-centered, drug-addicted fool. Until I learned how to read I had lived in a whole underpopulated world of self-centered, drug-addicted fools, all of us living by our Rules of Privacy in some crazy dream of Self-Fulfillment.

Das Wiedererwachen des menschlichen Geistes
(und die Todessehnsucht eines unsterblichen Roboters)

„Don’t ask; relax“ ist einer von mehreren Merksprüchen, die Walter Tevis’ Roman „Mockingbird“ wie ein roter Faden durchziehen und die Erzählung bereits perfekt zusammenfassen. Was geschieht, wenn wir uns nur noch für das eigene Innenleben interessieren? Was geschieht, wenn das Leben so bequem wird, dass wir aufhören, uns weiterzuentwickeln? Die 1980 erschienene Dystopie ist vor allem deshalb so verstörend, weil sie Konzepte entwickelt, die heute zum Teil schon Realität sind oder es bald werden könnten.
In der von Tevis geschilderten Gesellschaft stehen Individualität und Privatsphäre an erster Stelle, eine vor allem den Drogen geschuldete Entwicklung. Eines der wichtigsten Schlagworte ist „mandatory politeness“, durch die niemand mehr dazu verpflichtet ist, mit anderen zu interagieren. Man kann einfach mit den Schultern zucken und die Augen schließen, und das Gegenüber muss das hinnehmen. Selbst Leuten direkt in die Augen zu sehen, gilt schon als übergriffig. Unter diesen Voraussetzungen sind ganze Generationen sozialer Schneeflocken herangewachsen, die nicht mal mehr zu einfachsten Beziehungen fähig sind. Ihr ganzes Leben dreht sich nur noch um Stimmungsaufheller und Fernsehen, Familien gibt es schon lange nicht mehr und längeres Zusammenleben ist per Gesetz verboten. („Quick sex is best“ ist ein weiteres dieser Schlagworte.)
Der Roman verfolgt im Wesentlichen zwei Schicksale. Da ist zum einen Paul Bentley, der eher durch Zufall Lesen lernt und daraufhin geradezu süchtig wird nach immer mehr Wissen. Aus Büchern lernt er aber nicht nur, wie die Menschen früher gelebt haben, sie öffnen seinen Geist auch für die Welt um ihn herum. Er beginnt, seine Gedanken niederzuschreiben, und entwickelt auf diese Weise ein Bewusstsein für sein eigenes Selbst. Der Androide Spofforth ist so etwas wie der Gegenentwurf dazu, denn während Bentley „erwacht“, wünscht sich Spofforth nichts sehnlicher als den Tod. Denn das ist die Crux seiner Existenz: Er ist physisch nicht dazu in der Lage, seinem Leben ein Ende zu setzen, und verzweifelt daran, Menschen zu dienen, die nur noch dahinvegetieren.
„Mockingbird“ ist kein Roman, den man um der Handlung willen liest, denn die ist vergleichsweise schlicht. Doch praktisch alles, was geschieht, zieht einen langen Gedankengang nach sich, der die menschliche Natur reflektiert. Was mich persönlich vielleicht am meisten traf, war die Idee, dass wir womöglich alle auf dem falschen Dampfer sind, was den technologischen Fortschritt angeht. Dass unser Bestreben, das Leben immer bequemer zu machen, am Ende eben nicht dazu führt, dass wir die gewonnene Zeit nutzen, um neue Sphären des Wissens und der sozialen Entwicklung zu erklimmen. Stattdessen würden wir jeglichen Lebensfunken, unsere Kreativität und die Neugier verlieren und immer fauler werden. Wir beobachten das schon heute, wo uns die Technik so vieles abnimmt, dass wir nach und nach verlernen, uns Dinge zu merken oder Probleme durch schlichtes Nachdenken zu lösen.
Die Fülle an Gedanken, die Tevis in seinem Roman verarbeitet, ist überwältigend und hat mir ehrlich gesagt einen Schock nach dem anderen bereitet. Da ist die zunehmende Vereinzelung des Menschen, die Auflösung des traditionellen Familienverbunds und die Überhöhung der Individualität. Oder die Frage, warum in der hier geschilderten Gesellschaft keine Babys mehr geboren werden – sowie die schreckliche Antwort darauf. Dann die Erwähnung des 21. Jahrhunderts, als Benzin teurer wurde als Whiskey, die meisten Leute zu Hause blieben und als Folge davon die Energiekriege ausbrachen. (Das war ehrlich gesagt der Moment, wo ich fast Angst bekam, weil die Vorhersage so fürchterlich präzise ist.) Und schließlich die Erklärung, warum die Leute das Lesen verlernt haben: Sie wollten nur noch anstrengungslose Ablenkung in Form von Fernsehen.
Obwohl Walter Tevis bei weitem kein Unbekannter ist und fast alle seine Romane verfilmt wurden (zuletzt „Das Damengambit“), ist „Mockingbird“ eher ein Geheimtipp geblieben. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Die Letzten der Menschheit“ erlebte offenbar nur eine Auflage, die heute nur noch vereinzelt antiquarisch zu bekommen ist. (Womöglich ändert sich das bald, denn Stand April 2022 soll nun auch dieses Buch verfilmt werden.) Es lohnt sich als Kontemplation über die Zerbrechlichkeit menschlicher Kultur und vielleicht auch als kleine Erinnerung daran, sich nicht auf Technologie als universellen Heilsbringer zu verlassen.
4 ½ von 5 Bananen, die heimlich zusammenleben.