Bücherstapel | Dave Eggers „Every“

Delaney hatte eine einfache Formel im Kopf, die ihrer Überzeugung nach sogar recht präzise war: 82-82. Zweiundachtzig Prozent der Menschen wollten sich zweiundachtzig Prozent ihres Lebens diktieren lassen.

Im Bauch des Ungeheuers

Delaney Wells hat ehrgeizige Pläne: Sie will Every stürzen. Das früher Circle genannte Unternehmen wird mittlerweile von Mae Holland geleitet und hat auch den Versandriesen dschungel geschluckt. Damit hat sie mehr oder weniger das Monopol darüber, was in Sachen Privatsphäre und Datenschutz gerade legal ist. Den Menschen ist es egal, die meisten sind sogar dankbar dafür, dass sie zu ihrer eigenen Sicherheit ständig überwacht werden, und dass sie keine eigenen Entscheidungen mehr treffen müssen, während sie angeblich klimafreundlich konsumieren. Nur eine Minderheit sogenannter Trogs wehrt sich gegen Every-Technologie und lebt weitgehend analog. Um das Unternehmen von innen heraus zu zerschlagen, nimmt Delaney einen Job bei Every an und streut auf dem Campus Ideen, die zunehmend übergriffig sind – in der Hoffnung, dass die Leute dadurch endlich aufwachen. Doch alle ihre Ideen werden mit Begeisterung aufgenommen.

„Das ist eine weitere Säuberung. So denkt die Führungsebene – dass solche Momente für notwendige Säuberungen sorgen. Dass die Verbesserung der Spezies, ihre Vervollkommnung, nur möglich ist, wenn wir all unsere Schwächen und Unterschiede abschütteln. Und jeder, der nicht mitmacht, wird aussortiert. Die Frechen oder Unvorsichtigen werden eliminiert, und die Spezies zieht weiter, nur zahmer.“

Widerstand ist zwecklos

Dave Eggers „Every“ ist wie schon der Vorgänger „Der Circle“ ein Buch, dessen Rezeption stark von der eigenen Einstellung zur Digitalisierung abhängt. Ich zum Beispiel gehöre der letzten Generation an, die in den 1980ern noch eine weitgehend analoge Kindheit verleben konnte. Den ersten Heimcomputer bekam meine Familie, als ich etwa neun oder zehn Jahre alt war. Einen Telefonanschluss schafften wir uns erst Anfang der 90er an – hauptsächlich, weil wir dieses „Internet“ ausprobieren wollten, von dem alle sprachen. Ich wurde dazu erzogen, neuer Technologie mit Neugier und einer gesunden Portion Misstrauen zu begegnen.
Der Großteil der in „Every“ geschilderten Geräte und Apps sind für mich der blanke Horror. Vor allem deshalb, weil sie längst eine Selbstverständlichkeit sind und mehr und mehr Voraussetzung werden, um überhaupt noch am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es beginnt mit dem Abbau von Fahrkartenautomaten, damit man eine App zum Busfahren braucht, und endet mit Schülern, die ohne Laptop nicht mehr am Unterricht teilnehmen können. Das größte Problem ist dabei nicht die Technik an sich, sondern die Tatsache, dass niemand sie mehr hinterfragt. Ich sehe die positiven Seiten der Digitalisierung und nutze sie auch, aber ich bin mir gleichzeitig dessen bewusst, dass vieles nur dazu dient, mehr Kontrolle über unser Leben zu gewinnen. Und das sage ich, gerade weil ich mit diesem Blog viele meiner Gedanken an die Öffentlichkeit trage und deshalb sehr genau abwäge.
Ich gebe zu, dass mir die Lektüre von „Every“ mit jeder Seite schwerer fiel, weil ich darin permanent aktuelle Tendenzen wiedererkannte, die der Autor einfach nur bis zu ihrem logischen Ende weitergedacht hat. Weil mir aber auch klar ist, dass das vielen anderen Leuten nicht auffällt oder tatsächlich egal ist. Wenn ich nichts zu verbergen habe, wieso sollte ich gegen Überwachung sein? Mit der richtigen Ideologie lässt sich heute alles verkaufen, und wenn es dem Klima nützt, warum sollen wir die Leute dann nicht zu Hause einsperren und ihnen einreden, dass sie damit etwas Gutes tun? Das Erschreckendste an „Every“ war für mich jedenfalls nicht das hoffnungslose Ende, denn mit einem Happyend habe ich irgendwann nicht mehr gerechnet. Nein, es war die Erkenntnis, dass das Buch ein ziemlich präzises Bild der Welt zeichnet, wie sie in ein paar Jahrzehnten sein wird.
„Every“ ist harter Tobak, auch wenn der Roman als harmlose Unterhaltung daherkommt. Lässt man sich auf die Problematik ein, regt er zum Nachdenken an, vielleicht auch zum Umdenken. Ich persönlich würde sogar so weit gehen, ihn als Pflichtlektüre an Schulen vorzuschlagen, denn gerade Jugendliche sind zunehmend unkritisch gegenüber digitalen Angeboten. In jedem Fall ist „Every“ ein wichtiges Buch, auch oder vielleicht gerade weil einige Rezensenten sofort eine Abwehrhaltung eingenommen haben.

4 ½ von 5 Bananen, ohne KI ermittelt.