Es ist die wichtigste Kunst des Lehrers, die Freude am Schaffen und am Erkennen zu wecken.
(Albert Einstein)
Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich von gewissen Dingen keine Ahnung habe. Und von vermutlich noch mehr keine präzise Vorstellung. Wie jeder Mensch sortiere ich die Welt in Sachen, die mich interessieren, und Informationen, die ich unter „ferner liefen“ abhefte – neben all dem Wissen, das ich mir nie angeeignet habe, bzw. aneignen wollte. So dachte ich bisher, dass Kleopatra im schwammig titulierten „Alten Ägypten“ lebte und den Bau der Pyramiden miterlebt hat. Dabei liegen zwischen ihr und den Steingebilden Tausende (!) von Jahren. Und schon zu ihrer Zeit gaben sie den Menschen Rätsel auf, nicht anders als heute.
Wer hat mir die Augen geöffnet? Kein Geschichtslehrer, keine Dokumentation im Fernsehen und kein Sachbuch – es war ausgerechnet die Videospielreihe Assassin’s Creed.
Was ist Assassin’s Creed?
Assassin’s Creed aus der Spieleschmiede Ubisoft begann 2007 als Geschichte um den Assassinen Altair, der zur Zeit der Kreuzzüge im Gebiet um Jerusalem lebt und dort im Auftrag seines Ordens sowohl fiktive als auch historisch belegte Persönlichkeiten meuchelt. Es war der Auftakt einer bis heute andauernden Serie, in der fast jedes Spiel einen anderen Hauptcharakter in einer anderen bewegten Epoche der Menschheit behandelt. Ezio Auditore im Spannungsfeld um die Medici, die Sforza und die Borgia. Ureinwohnerspross Connor in den noch jungen USA von Washington, Jefferson und Franklin. Arno während der Französischen Revolution. Und Bayek im Zeitalter von Kleopatra und Caesar – und lange nach den Pyramiden, wie ich jetzt weiß.
Diese Protagonisten bewegen sich in liebevoll und beeindruckend detailreich gestalteten Umgebungen, nicht selten mit bedeutungsvollem, historischem Bezug, und namhaften Städten wie Florenz, Alexandria, Rom, Paris oder London. Sie sind – oder werden – Assassinen, das bedeutet, ihr Auftrag ist das Töten von Figuren, die in einem Spiel um Macht und Einfluss anderen im Weg sind oder dem gegnerischen Orden der Tempelritter angehören. Im historischen Kontext sind diese tatsächlich nicht selten auf ungeklärte oder gewaltsame Weise ums Leben gekommen, oder es wurde schon unter Zeitzeugen gemunkelt, der Tod sei nicht auf natürliche Weise eingetreten. Was liegt näher, als sich vorzustellen, ein Assassine hätte die Tat verübt? Ein Assassine, den wir zuvor kennenlernen und selbst steuern, und dessen Beweggründe wir erforschen – ebenso wie die Städte, die Landschaften und die Architekturen der jeweiligen Epochen.
Dürfen die das?
Videospiele werden nicht gerade als etwas eingestuft, von dem man mehr lernen kann als motorische Fähigkeiten und Reflexe. Sie haben selten echt intellektuellen Anspruch, und so erntet die Idee, sie als Lehrmittel in Schulen einzusetzen, vermutlich breitgefächertes Kopfschütteln.
Assassin’s Creed bindet historisch belegte Fakten in ein Geflecht aus vermutlicher und tatsächlicher Fiktion ein, gibt ihm einen spielerischen Kontext und eine eigene Geschichte. Während man der Hauptfigur folgt, seiner im Grunde recht trivialen Motivation aus Mordauftrag und/oder persönlicher Rache, lernt man geschichtlich relevante bis bedeutende Persönlichkeiten kennen. Und zwar in ihrem eigenen Alltag, mitsamt ihrem eigenen Kontext, ihrem eigenen Antrieb und ihren persönlichen Ansichten – also all dem, was wir heute „Geschichte“ nennen. Man erlebt sie so mit, man formt sie sogar, indem man Figuren vom Spielbrett nimmt, um anderen den Aufstieg zu ermöglichen, oder anderen Hilfe und Schutz gewährt, die später noch eine große Zukunft haben werden.
Was lernt man aus so einer Konstellation? Ich finde: sehr viel. Es ist eine Sache, über den Aufstieg Rodrigo Borgias zu lesen, und eine andere, ihm dabei wortwörtlich zuzusehen. Noch dazu, wenn der Protagonist an ihm Rache für den Tod seiner Familie nehmen will und dennoch nichts dagegen tun kann, dass sein Todfeind am Ende zum Papst ernannt wird.
Über die Französische Revolution zu lesen, ist schön und gut, doch noch einmal etwas anderes, durch die Straßen eines aufgebrachten Paris‘ zu schlendern und sich durch den plündernden Mob zu schlängeln, vorbei am Platz, auf dem in regelmäßigen Abständen die Guillotine ihre blutige Arbeit verrichtet.
In den letzterschienenen Spielteilen wurde ein eigener Modus dafür entwickelt, sich in aller Ruhe die historischen Stätten anzusehen und dabei mit zusätzlicher Information versorgt zu werden. Ohne den Druck von stetig lauernden Feinden, der bei gewöhnlichen Spielen das Tempo erhält, kann man eine Figur beispielsweise durch die große Pyramide von Gizeh steuern oder durch das Viertel der Einbalsamierer, um ihre Technik genauer unter die Lupe zu nehmen. Nebenbei bekommt man echtes Bildmaterial zu sehen, Fotos von Wandmalereien, Schmuck oder Schriften. All das, was man auch in einem Fachbuch lesen könnte, garniert und vorangetrieben durch die Interaktivität und Immersion des „tatsächlich Dabeigewesenen“. Assassin’s Creed: Origins erschien dem National Geographic Museum in Washington, DC so lehrreich, dass Szenen aus dem Spiel in ihre diesjährige Altägyptenausstellung „Queens of Egypt“ aufgenommen wurden. Was auch schon etwas heißen will.
Wenn Erfundenes Fakten lehrt
Meines Erachtens nach wird Geschichte sehr viel näher und erlebbarer, wenn man eine emotionale Komponente damit verknüpfen kann. Genau das ist aber auch die Krux an der Sache, denn ebendiese Komponente ist meist das Fiktive. So hat Rodrigo Borgia höchstvermutlich nie die Familie eines Ezio Auditore töten lassen. Allerdings ist Ezio wohl der Grund, warum Rodrigo Borgia sehr viel mehr jungen Leuten ein Begriff ist. Geht ein Videospiel, bei dem ein großer Teil schlicht erfunden wurde, dann also als Lehrmaterial durch? Darüber scheiden sich die Geister.
Meine persönliche Meinung ist: Alles was ein Interesse für Geschichtliches weckt, hat als solche eine Existenzberechtigung. Gerade bei jungen Leuten. Auch wenn es vermutlich nicht der Hauptgrund sein wird, Assassin’s Creed zu spielen. Bis auf oben genannten Erkundungsmodus wird es jedoch schwierig sein, es als Lehrmittel in Schulen umzusetzen, denn in erster Linie ist es nun mal ein Unterhaltungsmedium. Es gilt Feinde zu bekämpfen, lautlos an Wachen vorbei zu schleichen, geschickt auf Gebäude zu klettern und Rätsel zu lösen. Und doch glaube ich, dass die Spieler am Ende mehr geschichtliche Informationen erhalten und auch behalten haben als in so manch staubtrockener Unterrichtseinheit. Und sei es auch nur den Ansatz von Wissen und die Neugier auf mehr.
Ein spannender Ansatz, der wohl leider nie ernsthaft verfolgt werden wird, weil Games ja „böse und gewaltfördernd“ sind. Dabei klingt das, was du beschreibst, absolut schlüssig. Nicht umsonst gibt es auch in der Werbung den Ansatz der „Gamification“, um den Kunden aktiv einzubinden. Dasselbe Prinzip könnte man zum Lernen nutzen — wenn man denn wollte.
Och, so schwarz würde ich es gar nicht sehen. Die jugendlichen Gamer von heute sind die Lehrer, Politiker und Wähler von morgen. So langsam tut sich was in den Köpfen, und auch die ewig Gestrigen müssen sich zumindest die Marktmacht von Spielen eingestehen. Sie passen immer weniger in die Nische, in der man sie früher gerne geschoben hat. Ich freu mich auf die Zukunft der Spiele als gleichberechtigtes Medium neben Musik und Filmen, die heute schon im Unterricht verwendet werden.