Nachtappell | Der optimierte Leser

In den Sozialen Medien und auf speziellen Buchclub-Websites übertrumpfen sich die Leute damit, wie viele Bücher sie in einem Jahr, einem Monat, einer Woche lesen können. Haben wir verlernt, Bücher einfach zu genießen?

Die Geschichte beginnt mit einem kleinen Heftchen, das ich Anfang des Jahres bei einem bekannten Buchhändler mitnahm. In 24 vorgegebenen Feldern sollte man jedes Buch notieren, das man gelesen hat, und einen Satz dazu schreiben, warum es einem gefallen hat. Eine schöne Idee eigentlich, und damals dachte ich auch noch, die 24 Bücher schaffe ich doch mit links in einem Jahr.

Jetzt, elf Monate später, weiß ich, dass ich maximal 20 schaffen werde. Dass 1.000-Seiten-Wälzer dieses Jahr einmal nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren, ist dabei nur ein Teil des „Problems“. Irgendwann im letzten Drittel des Jahres wurde mir auch bewusst, dass ich mich völlig unnötig unter Druck setze und nur noch das Ziel vor Augen habe. Dabei ist beim Lesen doch gerade der Weg das Entscheidende.

Es ist der absurde Gipfel eines Selbstoptimierungswahns, der unsere Gesellschaft befallen hat. Als wäre selbst das Lesen von Büchern nur ein weiterer Punkt auf der To-do-Liste, um ein besserer und klügerer Mensch zu werden. Versteht mich nicht falsch, ich kenne das nagende Gefühl, dass die eigene Lebenszeit für so viele lohnenswerte Bücher einfach nicht ausreicht. Aber indem ich durch alle nur durchhetze, habe ich am Ende doch nur von mehr Büchern nichts.

Ich jedenfalls habe mich aus diesem Wettbewerb wieder verabschiedet und genieße künftig lieber meine fünfzehn bis zwanzig Bücher im Jahr. Das Heftchen wird dann eben erst kommenden Februar voll.