Bücherstapel | Robert Charles Wilson „Spin“

Von jüngeren Leuten werde ich oft gefragt: Warum seid ihr nicht in Panik verfallen? Warum ist niemand in Panik verfallen? Warum gab es keine Plünderungen, keine Aufstände? Warum hat eure Generation klein beigegeben, warum seid ihr in den Spin hineingeglitten, ohne auch nur den leisesten Protest zu erheben?

Eine Apokalypse in Zeitlupe

Die Zwillinge Jason und Diane Lawton sind dreizehn, ihr bester Freund Tyler Dupree zwölf Jahre alt, als eines Abends im Oktober plötzlich die Sterne erlöschen. Was tatsächlich passiert ist, gelangt erst Jahre später nach und nach an die Öffentlichkeit. Eine außerirdische Intelligenz, die Hypothetischen genannt, da ihre Existenz nur vermutet wird, hat eine Membran um die Erde gelegt, den sogenannten Spin. Der Planet wurden damit in eine Art zeitliche Starre versetzt, während das Universum außerhalb des Spins um Jahrhunderte, Jahrtausende, Jahrmillionen altert und die Sonne ihrem Ende entgegengeht.
Während Tyler Medizin studiert und sich Diane religiösen Fanatikern anschließt, tritt Jason in die Fußstapfen seines Vaters und übernimmt die Leitung von Perihelion. Die der NASA angegliederten Institution widmet sich ganz der Erforschung des Spin. Und Jason entwickelt einen ehrgeizigen Plan, um die Menschheit zu retten: Im Abstand weniger Monate werden Mikroorganismen, Pflanzen und schließlich Menschen zum Mars geschickt, wo die Zeit viel schneller vergeht als auf der Erde. Kaum aber zeigen sich erste Spuren von Zivilisation auf dem Mars, erhält auch er eine Spinmembran.
Die globale Wirtschaft war ins Trudeln geraten, denn Konsumenten wie Staaten häuften Schulden auf in der Erwartung, sie nie begleichen zu müssen, während Kreditgeber Geldmittel horteten und die Zinsen in die Höhe schossen. Religiöser Fanatismus und brutale Kriminalität stiegen rasant an, hier ebenso wie im Ausland.

Wie geht eine Zivilisation mit ihrem
bevorstehenden Ende um?

Robert Charles Wilsons Roman „Spin“ ist Teil einer Trilogie, die vermutlich sinnvollerweise als Ganzes betrachtet werden sollte. Jedoch, da es nach dem ersten Band einen spürbaren Bruch in der Erzählung gibt, habe ich mich entschlossen, sie nun doch einzeln zu besprechen – und zwar ganz bewusst, ohne zu wissen, wohin mich die Geschichte noch führen wird. Eine Spoilerwarnung möchte ich an dieser Stelle dennoch aussprechen, da die Ideen, die in „Spin“ stecken, kaum ausreichend diskutiert werden können, ohne gewisse Entwicklungen und Wendepunkte zu benennen.
Und bei Gott wirft dieses Buch mit Ideen um sich! Allein mit dem, was auf den knapp vierhundert Seiten dieses ersten Bandes passiert, würden andere Autoren ganze Buchreihen füllen. (Schon das Mars-Terraforming-Projekt bietet Stoff genug für einen eigenständigen Roman.) Tatsächlich ist die Unaufgeregtheit, mit der Wilson nach und nach zum Kern dessen vorstößt, was hier mit der Menschheit passiert, für mich fast der entscheidende Punkt. Ja, es ist ein riesiges Ereignis, das die gesamte Gesellschaft auf den Kopf stellt und die Lebensweise jedes Einzelnen in unvorstellbarer Weise beeinflusst. Aber niemals flüchtet sich Wilson in Pathos oder epische Beschreibungen, und das lässt alles umso realistischer wirken.
Interessanterweise ist ein Kritikpunkt, den ich häufiger gelesen habe, dass der Roman kontinuierlich bei den drei Hauptfiguren Tyler, Jason und Diane bleibt. Was sonst in der Welt passiert, wird immer aus ihrer Sicht geschildert, lückenhaft und auf das beschränkt, was ihr unmittelbares Leben betrifft. Ich empfand das eher als Stärke, weil es eben nicht darum geht, was die „Aliens“ tun, sondern wie wir Menschen darauf reagieren. Wie zum Beispiel Dianes Flucht in den Glauben, obwohl sich die verschiedenen religiösen Gruppen in zunehmend absurde Endzeittheorien verwickeln.
Doch wir waren keine Museumsstücke, eingefroren zur öffentlichen Zurschaustellung – vielmehr bastelten die Hypothetischen uns ein neues Schicksal. Während sie uns in den extremen Langsammodus gestellt hatten, trugen sie die Teile eines Experiments zusammen, eines über Milliarden von Jahren konzipierten und jetzt seiner Vollendung zustrebenden Experiments: eine erweiterte biologische Umwelt zu erzeugen, in die hinein sich diese ansonsten zum Untergang verurteilten Kulturen ausdehnen konnten, in der sie sich schließlich begegnen und miteinander vermischen würden.
Wollte man spitzfindig sein, müsste man „Spin“ eher unter Gesellschaftsdrama denn als Science-Fiction einsortieren. Über die Figur von Jason werden wir zwar über den aktuellen Forschungsstand zum Thema Spinmembran auf dem Laufenden gehalten, doch das Leben der „normalen“ Leute geht weiter. Eine ganze Generation wächst in dem Wissen auf, dass nach ihnen nichts mehr kommen wird, und während das die einen dazu motiviert, sich einer Aufgabe zu widmen, resignieren andere. Als schließlich das Ende der Welt gekommen scheint, greifen nicht wenige zur Waffe und begehen Selbstmord – ein letzter Versuch, Kontrolle über das eigene Leben zu erlangen.
In gewisser Weise stellt „Spin“ aber auch die Antithese zum klassischen Erstkontakt-Szenario dar. Denn als die Membran erscheint, ist zwar klar, dass es eine außerirdische Existenz geben muss, doch die Menschheit bekommt sie nie zu Gesicht, sie bleibt ein Abstraktum. Was sie dazu bewegt, die Erde unter einer Glocke zu konservieren und im Zeitraffer durch Jahrmillionen galaktischen Entstehens und Vergehens zu schleusen, weiß keiner. Kann im Grunde nicht einmal spekuliert werden, weil die Hypothetischen offenkundig in weit größeren Zeiträumen denken.
Seine ganze Genialität entfaltet „Spin“, als sich herausstellt, dass keine gottgleichen Aliens über das Schicksal der Menschheit bestimmen. Im Bestreben, mehr über die Hypothetischen zu erfahren, werden sogenannte Replikatoren in die Weiten des Alls geschickt. Nanobots, die sich selbst replizieren und so ein engmaschiges Netzwerk bilden, das Daten sammelt und zur Erde zurückschickt. Doch im ganzen Universum wimmelt es bereits von Netzwerken längst vergangener Zivilisationen, die quasi-intelligent versuchen, Planeten wie die Erde davor zu bewahren, sich selbst zu zerstören. Ein unerwartet hoffnungsvoller Gedanke in einem Buch über das vermeintliche Ende der Menschheit, das stattdessen ein Aufbruch in andere Welten ist.
4 ½ von 5 jahrtausendealten Bananen.