Indem sich der Künstler hoch genug hinaufschwang, um das Schöne zu erreichen, verringerte sich in seinen Augen der Wert des Symbols, durch das er es sterblichen Sinnen begreiflich machte, weil sich sein Geist im Genuss der Wahrheit selbst besaß.
Eigentlich lese ich keine Kurzgeschichten und Erzählungen. Die Erklärung dafür mag seltsam klingen, doch ich mag keine Geschichten, die nur auf eine Pointe zusteuern. Kaum hat man sich mit den Protagonisten angefreundet und würde gerne mehr über sie erfahren, kommt die unerwartete Wendung, und dann ist die Geschichte auch schon zu Ende. Das soll keine Kritik am Genre oder den Autoren sein, die Kurzgeschichten schreiben, ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, so zu schreiben, dass das Ende wirklich erstaunt, doch ich persönlich finde das unbefriedigend.
Warum also habe ich einen Band mit Erzählungen gelesen? Nun, daran ist eigentlich nur Nathaniel Hawthorne schuld. Sein Roman “Der scharlachrote Buchstabe” war der erste literarische Klassiker, den ich in meinem Leben gelesen habe, als ich etwa dreizehn oder vierzehn war. Zuvor hatte ich vor allem Science-Fiction gelesen, kurz gesagt leichte Lektüre, die mich nicht im geringsten auf das Gefühlschaos vorbereiten konnte, das “Der scharlachrote Buchstabe” in mir auslöste. Ich sage immer, Hester Prynne war die erste weibliche Heldin in meinem Leben, aber im Grunde war es mehr als das, denn Hester war vor allem eine Frau mit Fehlern. Im Gegensatz zu ihrem Geliebten Arthur Dimmesdale steht sie jedoch dazu, und das mit Stolz. Am Ende prägte das Buch meine bis heute währende Liebe für große Geschichten, wie sie heute nur noch von wenigen Autoren geschrieben werden (können). “Anna Karenina”, “Ditte Menschenkind”, “Eine amerikanische Tragödie”, all diese Bücher hätte ich sonst nie oder erst viel später gelesen.
Das Traurige ist, dass ich Hawthornes Erzählungen nicht ansatzweise so genießen konnte wie “Der scharlachrote Buchstabe”. Wie ich eingangs schrieb, ist die große Kunst von Erzählungen, auf wenigen Seiten einen ganzen Kosmos zu erschaffen und den Protagonisten so zu charakterisieren, dass der Leser mehr über ihn erfahren möchte, während gleichzeitig eine Geschichte erzählt wird, die sich keine Ausschweifungen erlauben kann. Nathaniel Hawthorne kann das nicht. Ich leugne nicht, dass einige der Geschichten in der Sammlung wirklich gut sind und am Ende überraschen, doch die Mehrzahl ist leider reichlich uninteressant. Die Ironie daran ist wohl, dass der Grund dafür etwas ist, was ich eigentlich als größte Stärke des Schriftstellers bezeichnen würde. Denn wer “Der scharlachrote Buchstabe” einmal gelesen hat, der wird sich vielleicht an den Sog seiner Sprache erinnern, an diese elektrisierende Wirkung seiner Worte, die einen immer tiefer in den Strudel der Ereignisse ziehen. Als ich den Roman im letzten Jahr noch einmal las, passierte mir das wieder, obwohl ich schon wusste, wie die Geschichte ausgeht, und das ist etwas, was ich einfach nur bewundern kann. In seinen Erzählungen bleibt Hawthorne keine Zeit für diesen kunstvollen Umgang mit Worten, er muss zu schnell auf den Punkt kommen, und so bleibt sein Stil in diesen kurzen Geschichten austauschbar.
Wer Nathaniel Hawthorne mag und sich einen Überblick über sein Werk verschaffen möchte, dem sei “Dr. Heideggers Experiment” durchaus empfohlen. Um den Autor kennenzulernen, ist die Sammlung allerdings gänzlich ungeeignet, da sie kaum Lust auf mehr machen wird.