Liebeshandlungen | Erzählt „Killing Eve“ eine Liebesgeschichte?

„Ja, ich mag dich. Aber nicht so sehr, wie du denkst.“

Friedrich Nietzsche prägte den Spruch „wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“. Was also passiert, wenn sich eine Agentin des britischen MI6 in eine mörderische Psychopathin hineinzuversetzen versucht, um sie zu schnappen? Die Serie „Killing Eve“ verfolgt über vier Staffeln die Beziehung von Auftragskillerin Villanelle und Geheimagentin Eve Polastri, die sich von einer harmlosen Schwärmerei zur komplexen Co-Abhängigkeit entwickelt. Spoiler! (Ich gehe auch auf das Ende der Serie ein.)

Zwei Frauen auf verschiedenen Seiten

Als wir Eve Polastri das erste Mal begegnen, ist sie eine unscheinbare Sicherheitsbeamtin beim MI5, die von ihren (vorwiegend männlichen) Kollegen gerne unterschätzt wird. Weil sie entgegen ausdrücklicher Anweisungen eine Spur verfolgt, die zu einer bislang namenlosen Serienmörderin führen könnte, wird sie gefeuert – und bekommt von Carolyn Martens die Leitung einer Undercover-Einheit des MI6 übertragen. Der Auftrag: Die als Villanelle bekannte Killerin finden und ihren Auftraggeber enttarnen, die Geheimorganisation „Die Zwölf“.
Villanelle alias Oksana Astankova ist das ganze Gegenteil, sie ist charmant, weltgewandt, elegant und gefühlskalt. Sie ist schnell gelangweilt und wendet sich dann auch gegen die Menschen, die auf ihrer Seite sind – wie ihren Mentor und Vaterersatz Konstantin Vasiliev. Ihre Leidenschaft ist das Töten, das sie entsprechend zelebriert; Understatement ist nicht ihr Stil. Als sie erfährt, dass der britische Geheimdienst eine eigene Abteilung für sie eingerichtet hat, fühlt sie sich geschmeichelt und ist entsprechend neugierig auf Eve.

Anziehung von der ersten Folge an

Eve und Villanelle begegnen einander das erste Mal im Waschraum eines Krankenhauses, als keine der beiden weiß, wer die andere ist. Villanelle ist auf dem Weg zu ihrem nächsten Opfer, Eve will eben dieses als Zeugin befragen. Eve will ihre Haare nach oben binden, worauf ihr Villanelle im Hinausgehen kokett rät: „Lieber offen.“ Als sie später dahinterkommt, wer die Unbekannte im Waschraum war, gerät sie bei der Beschreibung regelrecht ins Schwärmen.
Die Beziehung zwischen den beiden Frauen wird somit schon früh als potenzielle Liebesgeschichte charakterisiert. Das ist auch deshalb interessant, weil zwar Villanelle Frauen liebt, Eve aber einen Ehemann hat und auch später, nachdem ihre Ehe durch ihre Besessenheit in die Brüche gegangen ist, ausschließlich Affären mit Männern hat. In der ersten Staffel herrscht insgesamt noch ein Ungleichgewicht, denn Eve ist zweifellos von Villanelle fasziniert, hat aber auch Angst vor ihr.
Ein erster wichtiger Wendepunkt findet im Staffelfinale statt, als Eve ihren Job beim MI6 verliert und ihre Ehe in der Krise steckt. Sie findet heraus, dass Villanelle in Paris wohnt, und bricht bei ihr ein. Unfähig, ihre Gefühle einzuordnen, verwüstet sie das Apartment – und wird von Villanelle ertappt. In einem überraschenden Waffenstillstand lassen sich beide aufs Bett fallen und reden darüber, wie toll sie einander finden. Doch als sich Villanelle für einen Kuss zu ihr beugt, rammt Eve ihr unvermittelt ein Messer in den Bauch.

Konstantin: „Was ist an ihr so besonders?“
Villanelle: „Wir sind gleich.“

Reizsteigerung durch Vermeidung

Man würde meinen, dass sich jedwede Anziehung spätestens jetzt in Luft auflöst, doch das ganze Gegenteil ist der Fall. Villanelle glaubt, dass sie Eve einfach noch nicht verstanden hat, und bemüht sich in der Folgezeit fast verzweifelt darum, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sei es durch weiße Rosen oder besonders kreative Morde, die unzweifelhaft ihre Handschrift tragen. Eve aber hat ihre eigene Reaktion in Paris derart verängstigt, dass sie jeden weiteren Kontakt meidet.
Die zweite Staffel ist dementsprechend durchsetzt von Ersatzhandlungen. Als Eve die Rosen bekommt, hat sie Sex mit ihrem Ehemann Niko. Als Villanelle Niko erzählt, dass seine Frau auf sie eingestochen hat, verbringen er und Eve eine heiße Nacht zusammen. Und als Villanelle ihnen bei einer Undercover-Mission hilft und Nachts ins Mikro spricht, weil sie weiß, dass Eve zuhört, verführt Eve kurzerhand Kollege Hugo. (Der versteht Eves Gefühle für Villanelle übrigens besser als sie selbst und bedankt sich anschließend für den Dreier.)
Im großen Showdown, der meiner Meinung nach das perfekte Ende der Serie gewesen wäre, wenden sich sowohl Eve als auch Villanelle gegen ihre jeweiligen Bosse und entscheiden sich füreinander. Um Villanelle vor einem Angreifer zu retten, greift Eve zur Axt und verliert völlig die Kontrolle – sehr zur Freude von Villanelle. Doch Eve merkt, dass sie manipuliert wurde und Villanelle sie mit diesem Mord nur an sich binden wollte. Als sie sich abwendet, erklärt Villanelle „du gehörst mir“ und schießt Eve in den Rücken.

Die Protagonistinnen gehen auf Sinnsuche

In Bezug auf die Beziehung von Eve und Villanelle sind die Staffeln 3 und 4 fast vernachlässigbar. Es gibt kaum Interaktionen, Villanelle widmet sich der Suche nach ihrer Familie und strebt eine höhere Position bei den „Zwölf“ an, Eve versucht einen beruflichen Neuanfang und endet schließlich doch wieder bei dem Vorhaben, die „Zwölf“ zu zerschlagen. Streckenweise funktioniert die Aussage, dass sich ihre Pfade wie die Umlaufbahnen von Planeten immer wieder kreuzen, aber der Fokus der Serie verschiebt sich doch spürbar zugunsten des Plots.
Einige Charakterentwicklungen sind zudem nicht gänzlich nachvollziehbar. Wenn sich Villanelle in der vierten Staffel der Religion zuwendet und enttäuscht reagiert, als Eve nicht zu ihrer Taufe erscheint, dann bleibt ihre Motivation weitgehend im Dunkel. Dass für Eve nicht entscheidend ist, dass Villanelle ein guter Mensch ist, sollte ihr zu diesem Zeitpunkt ja eigentlich klar sein. Überhaupt scheint das Wegstoßen und anschließende Versöhnen irgendwann zum Selbstzweck zu werden.

Schwenk zur konventionellen Romanze

Das Finale ist symptomatisch für die Probleme jener zwei Staffeln, denn nachdem zu Beginn der Serie noch sehr viel Wert auf differenzierte Psychologie gelegt wurde, endet das Ganze recht einfallslos als romantisches Roadmovie. Da werden wir zwar mit emotional aufgeladenen Szenen verwöhnt (beispielsweise als Villanelle die Narbe auf Eves Rücken streichelt, die ihr Schuss hinterlassen hat), aber es vereinfacht auch die komplexe Dynamik, die zuvor mühsam aufgebaut wurde.
Der erste „richtige“ Kuss, den Eve und Villanelle teilen, nachdem sie nebeneinander am Straßenrand pinkeln waren, ist so gesehen ein zweischneidiges Schwert. Es ist klar, dass viele Zuschauer darauf gewartet haben und die Autoren den Druck verspürten, jene vermeintliche Liebesgeschichte auch zu „vollziehen“. (Sex im Anschluss an diesen Kuss wird angedeutet, wenn auch nicht explizit angesprochen oder gezeigt.) Aber war es denn jemals wirklich eine Liebesgeschichte?
Villanelle: „Nicht umdrehen, einfach weggehen.“

Zwei Seiten derselben Medaille

Ich für meinen Teil war im Nachgang nicht nur enttäuscht, weil Villanelle am Schluss hinterrücks erschossen wird und es somit auch keine irgendwie geartete Katharsis für sie gab. Viel schwerer wiegt, dass die Serie es verpasst, dem eigenen, zu Beginn formulierten Anspruch gerecht zu werden. Denn „Killing Eve“ ist mitnichten die Geschichte zweier Frauen, die sich lieben, es ist eine Geschichte über zwei Frauen, die sich voneinander angezogen fühlen – und die Gründe dafür.
„Wir sind gleich“, erklärt Villanelle in der zweiten Staffel, und spricht damit den wohl wichtigsten Satz aus. Eve ist mindestens genauso sehr eine Psychopathin wie Villanelle, und das Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden bezieht seinen Reiz gerade daraus, dass Eve sich etwas vormacht. Sie glaubt, weil sie für den Geheimdienst und damit für die „Guten“ arbeitet, tötet sie aus den „richtigen Gründen“. Ihre Faszination von Villanelle rührt in Wahrheit daher, dass sie im Gegensatz zu ihr frei ist, diese Tendenzen auszuleben, ohne eine bürgerliche Fassade aufrechterhalten zu müssen.
Auf der anderen Seite schmeichelt Eves Interesse natürlich Villanelles Eitelkeit. Es entsteht eine sich selbst bestärkende Abhängigkeit zwischen ihnen, denn nur durch das Morden scheint sich Villanelle Eves Aufmerksamkeit sicher zu sein. Und je unberechenbarer sie handelt, desto gefesselter ist wiederum Eve. Ihre Beziehung ist geprägt von Anziehung, von Faszination, und bis zu einem gewissen Grad auch von Hass. Aber das ist keine Liebe, und dass die Serie uns das am Ende weismachen will, ist schlicht schade.